Barbesitzerinnen, Verkäuferinnen, Sekretärinnen, Geishas, Hausfrauen, Mütter, Töchter: Im Mittelpunkt vieler Filme von Mikio Naruse der frühen 50er Jahre stehen Frauenfiguren. Sie sind unterschiedlichsten Alters, leben in bescheidenen Verhältnissen, in schwierigen Familienkonstellationen, stehen an Wendepunkten. Sie ringen um Respekt, um Selbstbestimmung, Unabhängigkeit, oftmals mit Einsamkeit und um einen Platz im sich rasant verändernden Nachkriegsjapan. Es sind komplexe, mitunter widersprüchliche Protagonistinnen, mit feinem Gespür gezeichnet und genauem, gleichermaßen teilnahmsvollen wie illusionslosen Blick beschrieben. Viele dieser Frauengestalten – so z.B. in MESHI (Repast, 1951), YAMA NO OTO (Sound of the Mountain, 1954), BANGIKU (Late Chrysanthemums, 1954) oder UKIGUMO (Floating Clouds, 1955) – entstammen den Drehbüchern und Romanadaptionen der beiden bedeutenden japanischen Drehbuchautorinnen Yoko Mizuki (1910–2003) und Sumie Tanaka (1908–2000). Als absolute Ausnahmeerscheinungen innerhalb der männerdominierten japanischen Filmindustrie, in der Frauen, abgesehen von Schauspielerinnen, allenfalls in den Bereichen Maske und Kostüm toleriert wurden, etablierten sich Mizuki und Tanaka in den frühen 50er Jahren und schrieben bis in die 60er jeweils 30 bis 40 Drehbücher. Darunter finden sich Arbeiten für Kozaburo Yoshimura und Kinuyo Tanaka (Sumie Tanaka) sowie für Tadashi Imai, Masaki Kobayashi und Kon Ichikawa (Yoko Mizuki). Den Beginn der Karrieren von Mizuki und Tanaka markierte die wiederholte Zusammenarbeit mit Mikio Naruse. Diese für alle drei Beteiligten prägende und erfolgreiche Arbeitsphase präsentieren wir anhand von acht Filmen.
UKIGUMO (Floating Clouds, Mikio Naruse, 1955, 10.9.: Einführung: Kayo Adachi-Rabe & 18.9.) Die junge Yukiko (Hideko Takamine) kehrt völlig mittellos in das düster-desolate Japan des ersten Nachkriegsjahres zurück. Unmittelbar nach ihrer Ankunft sucht sie Kenkichi (Masayuki Mori) auf, mit dem sie im japanisch besetzten Vietnam während des Kriegs eine Affäre hatte. Von seinem damaligen Versprechen eines gemeinsamen Lebens ist bei ihrem Wiedersehen in Tokio keine Rede mehr. Die in Trümmern liegende Stadt wird zum Schauplatz einer zerstörerischen Liebe: je mehr Kenkichi – ein verantwortungsloser Frauenheld – zurückweicht, desto obsessiver hält Yukiko an ihrer Liebe zu ihm fest. In tristen Behausungen und billigen Gaststätten, auf langen Gängen durch Straßen und Gassen treffen zwei Entwurzelte aufeinander, lassen sich treiben, bis sie eine letzte Reise antreten. UKIGUMO gehört zu Naruses ambitioniertesten Arbeiten. Die komplexe Erzählstruktur, zahlreiche Flashbacks und Ellipsen sind gleichermaßen von der literarischen Vorlage des Films (ein Roman von Fumiko Hayashi) sowie von Yoko Mizukis Drehbuch geprägt, die nicht nur das Ende des Romans für den Film deutlich verdichtete.
MESHI (Repast, Mikio Naruse, 1951, 11. & 20.9.) Naruses erste Verfilmung eines Romans von Fumiko Hayashi ist gleichzeitig Beginn seiner Zusammenarbeit mit Sumie Tanaka, die die Drehbuchfassung zu MESHI gemeinsam mit Toshiro Ide erarbeitete. Im Mittelpunkt steht Michiyo (Setsuko Hara) – eine der ersten starken Frauenfiguren bei Naruse. Nach fünf eintönigen Ehejahren, geprägt von Geldsorgen und der Geringschätzung durch ihren Mann (Ken Uehara), ist sie zunehmend ernüchtert. Die Situation verschärft sich, als die Nichte ihres Mannes zu Besuch kommt, sich von ihrem Onkel ausführen lässt und ihn ungeniert anflirtet. Kurzentschlossen reist Michiyo zu ihren Eltern nach Tokio, um Abstand und Eigenständigkeit zu gewinnen. An dieser Stelle bricht Hayashis unvollendet gebliebener Roman ab. Das von Tanaka und Ide entwickelte Filmende – die Scheidung des Paares – stieß beim Studio und den Produzenten auf größten Widerstand und wurde nicht umgesetzt. Tanaka zog sich – so heißt es – aus diesem Grund vorzeitig aus dem Projekt zurück.
SHUU (Sudden Rain, Mikio Naruse, 1956, 11. & 17.9.) Naruses vierter „Ehefilm“ kommt als Pendant zu MESHI daher: Basierend auf einem Theaterstück entwirft Yoko Mizuki das komisch-tragische Porträt von Fumiko (Setsuko Hara) und Ryotaro (Shuji Sano), deren Beziehung einen Tiefpunkt erreicht hat. Kleinigkeiten führen zu düsteren Eheszenen. Der triste Tokioter Vorort, in dem sie wohnen, ihre unfreundlichen Nachbar*innen (inklusive einiger grotesker Randfiguren) scheinen die gravierenden Beziehungsprobleme zu verstärken. Die Entfremdung der japanischen Nachkriegsgesellschaft tut ihr Übriges. Der titelgebende plötzlich einsetzende Regen fungiert als Unterbrechung der Verfahrenheit der Situation, gleichermaßen als dramatisch-atmosphärische wie symbolhafte Interpunktion.
YAMA NO OTO (Sound of the Mountain, Mikio Naruse, 1954, 12. & 21.9.) Wie aus der Zeit gefallen wirkt das idyllische Anwesen der Ogatas samt großem Garten im ruhigen Kamakura unweit Tokios. Hier wohnt Kikuko (Setsuko Hara) mit ihrem Mann Shuichi (Ken Uehara) und ihren Schwiegereltern, die sie liebevoll umsorgt. Während ihre Ehe zerrüttet ist, Shuichi eine Geliebte in Downtown Tokio hat und er abends, wenn überhaupt, völlig betrunken nach Hause kommt, bildet sich zwischen Kikuko und ihrem Schwiegervater eine tiefe Zuneigung, womit die Geschichte einer scheiternden Ehe zu einem existentiellen Melodram wird. Bei aller Werktreue ihres Drehbuchs griff Yoko Mizuki in die dem Film zugrundeliegende Romanvorlage des Nobelpreisträgers Yasunari Kawabata an entscheidender Stelle ein und verschob den Schwerpunkt der Handlung vom Schwiegervater auf die junge Kikuko, deren Perspektive in der emblematischen Schlussszene des Films im wahrsten Sinne des Wortes endlich Raum greifen kann.
INAZUMA (Lightning, Mikio Naruse, 1952, 13. & 17.9.) Tagsüber arbeitet sie als Stadtführerin und begleitet Busreisegruppen durch das luxuriöse Geschäfts- und Vergnügungsviertel Ginza in Tokio, abends kehrt Kiyoko in die beengten Verhältnisse zurück, in denen sie und ihre Mutter wohnen. Hier ist sie zudem einer ihrer drei Halbgeschwister ausgesetzt, die sie – mit Blick auf den eigenen finanziellen Vorteil – mit einem reichen Bäcker verkuppeln will. Auch die Lebensversicherung, die Kiyokos andere Halbschwester nach dem Tod ihres Mannes erhält, ruft die begehrlichen Familienmitglieder auf den Plan. Abgestoßen von der Selbstsucht der einen und Lebensuntüchtigkeit der anderen Verwandten zieht Kiyoko aus. Doch die japanischen Familienbande sind eng und widersprüchlich. Naruses Studie einer Patchwork-Familie und ihrer emotionalen Verstrickungen basiert auf einem Vorkriegs-Roman von Fumiko Hayashi, den Sumie Tanaka in das Nachkriegsjapan transponiert und um einige Handlungslinien verschlankt hat.
OKAASAN (Mother, Mikio Naruse, 1952, 14. & 18.9.) „Ein Film über einfache Leute und harte Arbeit“ geht auf eine Kurzgeschichte zurück, die im Rahmen eines Schreibwettbewerbs mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurde. Yoko Mizuki greift den vergleichsweise heiteren, mitunter sentimentalen Ton der Vorlage auf und schafft die Grundlage, auf der Naruse das typische „Mutterfilm“-Genre unterwandern kann. In einer Reihe von Episoden fächert er das entsagungsreiche Leben einer vielköpfigen Familie auf, die im Nachkriegsjapan versucht, halbwegs über die Runden zu kommen. Als mit Müh und Not ihr kleiner Waschsalon eröffnet werden kann, sterben Sohn und Vater. Einmal mehr hängt es an der Mutter (Kinuyo Tanaka), den Betrieb und die Familie zusammenzuhalten. Ihr Preis ist hoch, als sie sich dem familiären Druck beugen und eine vermeintlich unschickliche Verbindung lösen muss. Ein Film des alltäglichen Lebens, der kleinen Dinge, leisen Rituale und der Einsamkeit einer Mutter.
BANGIKU (Late Chrysanthemums, Mikio Naruse, 1954, 15.& 22.9.) Vier Ex-Geishas, vier Tage. Sumie Tanaka und ihr Ko-Autor Toshiro Ide verweben Charaktere und Episoden aus drei Kurzgeschichten der Schriftstellerin Fumiko Hayashi zu einem Porträt des Alltags von vier Frauen mittleren Alters, die jeweils mit unterschiedlichen Problemen (Geld, Liebe, Familie) konfrontiert werden, jedoch entschlossen sind, jenseits aller Widrigkeiten und Enttäuschungen ihren Platz in der modernen Welt zu finden. Der Film beginnt und endet mit Kin, die mit Immobilien spekuliert, Geld verleiht und die Zinsen regelmäßig selbst eintreibt. So auch bei drei ihrer früheren Kolleginnen: der Barbetreiberin Nobu, Tamae, die in einem Hotel arbeitet, und Tami, die sich mit kleinen Schwarzmarktgeschäften über Wasser hält. Fern jeglicher Dramatik, ist der Film vor allem eine Charakterstudie von vier Frauen (mit hier und da aufblitzender Komik), die ein Leben jenseits der traditionellen Normen führen.
NAGARERU (Flowing / A House of Geisha, Mikio Naruse, 1956, 16. & 19.9.) Naruses Filme werden immer wieder als „fließend“ beschrieben. Im filmischen Abbild des Lebens seiner Protagonist*innen gibt es kaum dramaturgische Höhepunkte, die Geschehnisse ereignen sich gleichmäßig, im Fluss. Das Unglück entfaltet sich in NAGARERU wie nebenbei, wenngleich unaufhaltsam, hier in Form des Niedergangs eines Geisha-Hauses. Das ständige Kommen und Gehen von Geishas, Lieferanten, Familienmitgliedern und Geldverleihern kann nicht darüber hinwegtäuschen: die Geschäfte im Tsuta-Haus gehen schlecht. Die Schulden, die Tsutayakko aufnehmen musste, um den Standard zu halten, sind erdrückend, die Einnahmen gering. Gönner sind nicht in Sicht, dafür die Konkurrenz. Die Mitglieder des Hausstandes realisieren eine nach der anderen, dass die Welt der Geisha-Häuser dem Ende zugeht. NAGARERU versammelt als klassischer Ensemblefilm eine Riege berühmter Star-Schauspielerinnen (darunter Kinuyo Tanaka und Hideko Takamine) und entsprechend viele, zum Teil humorvolle Erzählstränge. Diese aus der umfangreichen Romanvorlage von Aya Koda zu destillieren und zu choreografieren, oblag Sumie Tanaka und ihrem Co-Autor Ide und war für sie eine Tour de Force. (mg)
Die Retrospektive ist eine Zusammenarbeit mit dem Japanischen Kulturinstitut Köln (The Japan Foundation) und findet im Rahmen des Veranstaltungsjahrs „160 Jahre Freundschaft Japan – Deutschland“ statt.