Das Sensory Ethnography Lab (SEL) an der Harvard-Universität zählt heute zu den interessantesten Produktionsstätten des dokumentarischen Kinos und der kinematografischen Forschung. Sozial- und Naturwissenschaften gehen subtile Beziehungen mit analoger und digitaler Medienkunst ein. Bild und Ton werden zu Seismografen einer körperlich erfahrbaren Welt, die von Menschen, Tieren und Geistern bewohnt wird. Der Streamingbereich www.arsenal-3-berlin.de zeigt im März sechs der zwischen 2009 und 2017 entstandenen Filme, die zum Verleihprogramm von arsenal distribution gehören und zum größten Teil im Forum und Forum Expanded der Berlinale präsentiert wurden.
LEVIATHAN (Lucien Castaing-Taylor, Véréna Paravel, USA 2013, 85 min)
Ein Jahr verbrachten Castaing-Taylor und Paravel filmend mit Hochseefischern aus New England auf dem Meer. Das Porträt der Fischereiarbeit, das daraus hervorging, steht in der alten Tradition, Fischerleute als Motiv für Bilder zu benutzen. Und dennoch widersteht der Film jedweder Romantisierung und dem Anthropozentrismus, die oftmals mit dieser Tradition einhergehen. Er evoziert weniger die emotionale Beziehung zwischen Mensch und Ozean als eine in ästhetischer und ontologischer Hinsicht gleichwertige Gewichtung von Humanem, Ökologischem und Industriellem. In den gleichen Gewässern, in denen Melvilles Pequod Moby Dick jagte, fängt LEVIATHAN den Zusammenprall von Mensch, Natur und Maschine ein. Mit einem Dutzend Kameras gedreht – die herumgeschleudert und angebunden sowie von Fischer zu Filmemacher gereicht wurden – entsteht das kosmische Porträt eines der ältesten Unterfangen des Menschen.
SWEETGRASS (Lucien Castaing-Taylor, Ilisa Barbash, USA 2009, 103 min)
Die Anthropologen und Filmemacher Lucien Castaing-Taylor und Ilisa Barbash haben drei Sommer lang in den Absaroka-Beartooth Mountains in Montana die Schafzucht auf einer der letzten Ranches in Familienbesitz dokumentiert. Ohne didaktischen Off-Kommentar, ohne Interviews, ohne Musik und bar künstlicher Dramatik beobachten die Filmemacher*innen das Leben ihrer Protagonist*innen, zeichnen ein Porträt von Schafen, Hirten und der sie umgebenden Natur. Auch der raue Humor der Rancher untereinander, wenn sie ihre Handgriffe beim Branden der Tiere ausführen, erzählt eine Geschichte der freien Schafzucht im Westen Amerikas, die im 19. Jahrhundert begann und langsam zu Ende geht.
MANAKAMANA (Stephanie Spray, Pacho Velez, Nepal/USA 2013, 118 min)
In statischen Einstellungen begleitet der Film Pilger, Touristen und Tiere auf ihrer Seilbahnfahrt zum Manakamana-Tempel der Hindu-Göttin Bhagwati in Nepal. Jede der zwölf Einstellungen zeigt eine Fahrt mit der Seilbahn, zwölf Porträts von Menschen und der sie umgebenden Landschaft und Kultur. Der Film ist filmische Trance, konzeptuelle Überschreitung und ethnografische Studie gleichermaßen.
FOREIGN PARTS (Véréna Paravel, J.P. Sniadecki, USA/F 2010, 80 min)
FOREIGN PARTS porträtiert eine heruntergekommene Industriegegend am Rande von Queens, die Véréna Paravel und J.P. Sniadecki zwei Jahre lang besuchten. Der Film beobachtet die umstrittene Enteignung einer Nachbarschaft, bevor sie im Kapitalismus der New Yorker Stadtökologie untergeht. "FOREIGN PARTS zeigt, wie diese Menschen unter den schlechtesten Bedingungen leben und arbeiten, aber trotzdem versuchen, der drohenden Sanierung ihres Viertels zu entgehen. Die Dramaturgie des Films erlaubt es dem Zuschauer, den Ort langsam, fast tastend, kennenzulernen, die eigenwillige Schönheit der Autoteile zu sehen, sich den Bewohnern zu nähern, ihre Geschichten, ihre täglichen Kämpfe ums Überleben zu erfahren. Man ist gefangen von einem Ort, der so gar nichts Schönes hat und doch bezaubert." (Chistine Dériaz)
YUMEN (J.P. Sniadecki, Xu Ruotao, Huang Xiang, China/USA 2013, 65 min)
YUMEN spielt in der nahezu vollständig verlassenen "Geisterstadt" Yumen, einer Stadt, die in der Provinz Gansu, im trockenen Nordwesten Chinas liegt und die einst aufgrund ihrer Ölproduktion gedieh. YUMEN ist ein gespenstisches, fragmentiertes Märchen, das von hungrigen Seelen, einer rastlosen Jugend, einem umherirrenden Künstler und einer einsamen Frau handelt, die in der Ruinenlandschaft der Stadt nach menschlicher Bindung sowie einer gemeinsamen Vergangenheit suchen. Teils "Ruinen-Voyeurismus", teils Gespenstergeschichte, komplett auf 16 mm gedreht, bringt der Film narrative Gebärde, Performancekunst und sozialistischen Realismus zusammen und formt daraus eine simple und leuchtende Collage, die nicht bloß mit Konventionen spielt und Genres trotzt, sondern zugleich Hommage auf eine Lebenswelt und ein Medium ist, die im Begriff sind langsam zu verschwinden.
SOMNILOQUIES (Lucien Castaing-Taylor, Véréna Paravel, F/GB/USA 2017, 73 min)
Der Songwriter Dion McGregor wurde in den 1960er Jahren vor allem dadurch bekannt, dass er seine Träume im Schlaf erzählte. Sein Mitbewohner nahm sie auf. Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel überwinden mit somniloquies die Grenzen zwischen innerer Traumlandschaft und menschlichem Körper. Zu Beginn sind fließende Formen zu sehen, ein undefinierbares sanftes Geräusch im Hintergrund. McGregors Stimme tritt daraus hervor und lädt uns ein: „I have expected you, come-on in, I said I would grant an interview.“ Je mehr wir ihm zuhören und in seine Traumwelt eindringen, desto deutlicher werden die Konturen schlafender Körper, die sich immer wieder aufzulösen scheinen.
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