Flucht- und Migrationserfahrungen prägen nicht nur die Realität, sondern auch 125 Jahre Filmgeschichte. Sie spiegeln sich in Biografien, Produktionsbedingungen und den Geschichten, die das Kino erzählt. Unter dem Titel „Cinematic Migrations“ widmet sich die sechste Ausgabe des Festivals Film Restored in 18 Filmprogrammen den vielfältigen internationalen Verflechtungen von Flucht, Auswanderung und Filmgeschichte.
PALERMO ODER WOLFSBURG (BRD/CH 1980, 3.11.) Werner Schroeters Epos, das in seiner restaurierten Fassung seine Premiere bei der Eröffnung des Festivals erlebt, ist eine Erzählung über Arbeitsmigrant*innen. Das mit dem Goldenen Bären der Berlinale prämierte Werk verbindet Dokumentarisches mit opernhaften Inszenierungen und satirischen Schlaglichtern auf die Bundesrepublik und ihren Arbeitsethos. Die Armutsflucht aus Süditalien ist ein wiederkehrendes Thema in der Filmgeschichte.
IL VALORE DELLA DONNA È IL SUO SILENZIO (Gertrud Pinkus, CH/BRD 1980, 7.11.) macht die Unsichtbarkeit der Ehefrauen der Gastarbeiter in doppeltem Sinne deutlich: Die aus Süditalien weiter wirkende Schweigepflicht (Omertà) verbot es den Protagonistinnen, vor die Kamera zu treten. Ihre Erzählungen über den Alltag in der Fremde sind aus dem Off zu hören und geben der Migrationserfahrung eine weibliche Stimme.
LO STAGIONALE (Alvaro Bizzarri, CH 1971, 6.11.) Der aus der und für die Gemeinschaft der Saisonarbeiter in der Schweiz gedrehte Mobilisierungsfilm schildert die unmenschlichen Beschränkungen des Familiennachzugs am Beispiel eines verwitweten Arbeiters und seines Sohns mit Anklängen an den italienischen Neorealismus.
In DÉJÀ S’ENVOLE LA FLEUR MAIGRE (Paul Meyer, B 1960, 5.11.) stehen Einwanderer vor der Kamera, um auf die verheerenden Arbeits- und Lebensbedingungen der Bergleute in der Borinage-Gegend in Belgien aufmerksam zu machen. Im Zentrum der Erzählung steht ein Junge mit seinen Erfahrungen als Kind von Eingewanderten. Die Lebenswelt der Kinder wird in diesem Film berührend und authentisch dargestellt. Hier wie dort veranschaulichen die kindlichen Protagonisten als nur sekundär von der Migration der Erwachsenen Betroffene eine existenzielle Verletzlichkeit in der oftmals feindlichen Umgebung. Zugleich künden sie von der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Die schwierigen Arbeits- und Lebensbedingungen der in den Norden Emigrierten stehen im Zentrum der beiden dokumentarischen Filme LO STAGIONALE und DÉJÀ S’ENVOLE LA FLEUR MAIGRE.
In 300 MIL DO NIEBA (Maciej Dejczer, PL/DK/F 1989, 7.11.) werden die Kinder selbst zu Akteuren und begeben sich auf eine abenteuerliche Reise, um der Perspektivlosigkeit zuhause zu entkommen, wo ihr Vater als Solidarność-Aktivist von den Behörden schikaniert wird.
ISABEL AUF DER TREPPE (Hannelore Unterberg, DDR 1984, 7.11.) Einen politischen Hintergrund hat auch die Emigration des zwölfjährigen Mädchens, das nach dem Putsch in Chile mit ihrer Mutter in die DDR flieht, wo die beiden jahrelang auf eine Nachricht von Mann und Vater warten.
THE KILLERS (Robert Siodmak, USA 1946, 4.11.) Das politisch bedingte Exil war und ist für die internationale Filmgeschichte prägend. Nicht alle aus Nazi-Deutschland geflohenen Filmschaffenden konnten in Hollywood Fuß fassen und dort ihre Karriere aufbauen wie beispielsweise Robert Siodmak. Mit THE KILLERS schuf er einen prototypischen Film Noir-Klassiker, der den Einfluss der Herkunft des Regisseurs und des expressionistischen deutschen Kinos der 20er Jahre nicht verleugnet.
DOÑA FRANCISQUITA (Spanien 1934, 4.11.) Hans Behrendt verschlug es in das vor-franquistische Spanien, wo er zusammen mit anderen Exilanten DOÑA FRANCISQUITA drehte – eine Tonfilmoperette mit Weimar Touch in spanischem Ambiente.
HORTOBAGY (Georg Höllering, HU 1937, 6.11.) Auch der Österreicher Georg Höllering durchlief verschiedene Stationen in seinem Exil. Bevor er endgültig nach Großbritannien übersiedelte, drehte er in Ungarn den erzählerischen Dokumentarfilm über die Puszta und ihre Bewohner*innen, der stark gekürzt ins Kino kam und nun die Premiere der restaurierten Fassung erlebt.
INSEL DER DÄMONEN (Friedrich Dalsheim, D 1933, 4.11.) ist ein Dokumentarfilm mit Spielhandlung, der nun digital restauriert auf der Leinwand zu sehen ist. Friedrich Dalsheims ethnografisch genauer „Kulturfilm“ über ein balinesisches Dorf und den dort herrschenden Geisterglauben wurde zwar sehr positiv in Nazi-Deutschland aufgenommen, dennoch musste der jüdische Filmemacher kurz darauf emigrieren.
Ein Programm mit fünf Animationsfilmen (DDR 1977–1988, 7.11.) von Kurt Weiler illustriert die künstlerische Bandbreite des wichtigsten Avantgardefilmers der DDR. Nach 1945 kehrten einige Filmschaffende aus dem Exil nach Deutschland zurück, so z.B. Kurt Weiler, der in die DDR ging und bei der DEFA Karriere machte. Andere Remigranten versuchten in der BRD Fuß zu fassen – oft wenig erfolgreich. Ein eindrückliches Beispiel hierfür ist Peter Lorres DER VERLORENE (BRD 1951, 7.11.). Der Regisseur spielt in seinem Film einen von Zwangsvorstellungen getriebenen Wissenschaftler, den seine Nazi-Vergangenheit einholt. Das nachkriegsdeutsche Publikum wollte mit Thema und Machart des Films nichts anfangen.
HELEN LA BELLE (Lotte Reiniger, GB 1957, 6.11.) und A NIGHT IN THE HAREM (Lotte Reiniger, GB 1958, 6.11.) Ins selbstgewählte Exil ging in den 30er Jahren Lotte Reiniger: In Großbritannien drehte sie einige ihrer besten Scherenschnitt-Animationen. Sie greifen Opernthemen auf und setzen sie in farbenprächtige Trickfilme um.
UN CHAPEAU DE PAILLE D’ITALIE (René Clair, F 1928, 6.11.) Wenig bekannt ist, dass die russische Revolution von 1917 ebenfalls einen Massenexodus nicht zuletzt unter Filmschaffenden hervorrief. In Paris gründeten diese „Weißrussen“ ein eigenes Filmstudio – das Albatros-Studio -, in dem René Clair seine wunderbare Komödie drehte. Das Boulevardstück um den von einem Pferd entwendeten Strohhut einer verheiraten Dame, die sich mit einem Liebhaber vergnügt, verbindet gekonnt die Tradition französischer Stummfilmkomödien à la Max Linder mit amerikanischem Slapstick.
EL DÍA QUE ME QUIERAS (John Reinhardt, USA 1935, 4.11.) Das Festival würdigt darüber hinaus auch Produktionen, die gezielt für eine migrantische Community produziert wurden. Stellvertretend wird ein Schlaglicht auf die spanischsprachige Filmkultur in den USA geworfen, für die Kinohits mit dem Tango-Star Carlos Gardel gedreht wurden.
ULKOMAALAINEN (Muammer Özer, Schweden/Finnland 1983, 5.11.) setzt die sich ins Wahnhafte steigernde Entfremdung eines türkischen Landarbeiters in einer Montage von dokumentarischen und surreal anmutenden Bildern filmisch um.
TRAVERSÉES (Mahmoud Ben Mahmoud, B/Tunesien 1982, 5.11.) schildert die kafkaeske Situation zweier Zufluchtsuchender, die von den Grenzbehörden abgewiesen werden und auf einer Fähre zwischen den Ländern hin und her pendeln.
FRANTZ FANON: BLACK SKIN, WHITE MASK (Isaac Julien, GB 1996, 5.11.) erzählt unter Verwendung von Rekonstruktionen, Archivmaterial und Interviews mit bedeutenden Theoretiker*innen vom Leben und Werk des einflussreichen antikolonialistischen Aktivisten und Schriftstellers Frantz Fanon und reflektiert dabei Fremdheitserfahrung und „Othering“ in (post-)kolonialem Zusammenhang.
Filme wie ULKOMAALAINEN, TRAVERSÉES und FRANTZ FANON: BLACK SKIN, WHITE MASK zeigen, wie Fremdheitserfahrungen mit eigenwilligen, teils experimentellen Stilmitteln veranschaulicht und in eine nicht-lineare Narration übersetzt werden.
Das vielfältige Filmprogramm wird ergänzt durch Vorträge und Podiumsrunden, die die Hintergründe dieser Filmproduktionen beleuchten sowie die Herausforderungen transnationaler Archivarbeit diskutieren. Ehrengast Jan-Christopher Horak schildert in seinem Eröffnungsvortrag, wie Los Angeles über Jahrzehnte hinweg zum Schmelztiegel verschiedenster Migrationsbiografien und -erfahrungen in der Filmbranche wurde. Mahmoud Ben Mahmoud stellt die Restaurierung seines Films TRAVERSÉES vor und Werkstattberichte und Filmeinführungen geben Auskunft über aktuelle Restaurierungsarbeiten. Eine Auswahl der Festivalfilme, Gespräche, Einführungen und zusätzliche Bonusfeatures werden online auf www.film-restored.de zur Verfügung stehen. (ah)