Die in Frankreich geborene russischstämmige Künstlerin Catherine Marina de Poliakoff, bekannt unter ihrem Künstlernamen Marina Vlady, ist eine der faszinierendsten und ausdrucksstärksten Schauspielerinnen ihrer Generation. In den 50er und 60er Jahren weltweit einer der größten Kinostars, drehte sie Filme mit zahlreichen bedeutenden Regisseur*innen und Schauspiel-kolleg*innen. Ihre bis heute mehr als 80 Filme umfassende Filmografie steht beispielhaft für die reiche, wechselhafte Geschichte des europäischen Nachkriegskinos und setzt sich über realpolitische und kulturelle Grenzen hinweg. Es gibt kaum ein europäisches Land, in dem Vlady nicht als Darstellerin arbeitete, einschließlich der Bundesrepublik, und damit zugleich eine kulturelle Brücke zwischen den Systemen schuf. Sie nahm dabei glaubhaft verschiedenste nationale Identitäten an, die sie mit ihrer ganz eigenen Leinwandpersona zusammenbrachte. Früh begann sie sich als Feministin zu engagieren, half während des Kalten Kriegs staatlich verfolgten Künstler*innen finanziell oder durch Vermittlung von Kontakten in den Westen, und unterstützt bis heute benachteiligte Menschen. Ende der 80er Jahre begann Vlady auch erfolgreich als Schriftstellerin zu arbeiten und debütierte dabei mit einem weltweit beachteten Buch über ihre bewegte Ehe mit dem sowjetischen Liedermacher Wladimir Wyssozki.
Obwohl viele ihrer Filme seinerzeit auch in Deutschland populär waren, muss ein Großteil heutzutage als weitgehend vergessen gelten. Eine umfangreiche, repräsentative Werkschau ihrer Filmauftritte ist überfällig, es gab eine solche bislang weder in Deutschland noch in Frankreich. Die aus 22 Filmen und einer Dokumentation über Vlady bestehende, von Gary Vanisian kuratierte Filmreihe im Kino Arsenal von 29.7.-30.8. schließt diese Lücke in der öffentlichen Wahrnehmung und präsentiert eine inspirierende, kämpferische, experimentierfreudige Künstlerin. Zugleich bietet das Programm eine Kartografie des europäischen Autorenkinos und seiner filmischen Ausdrucksmöglichkeiten.
Vladys einzige Hauptrolle in einer sowjetischen Produktion, SJUSCHET DLJA NEBOLSCHOGO RASSKASA (Sujet für eine Kurzgeschichte), zeigen wir im Rahmen unserer 70-mm-Reihe (31.7.).
2 OU 3 CHOSES QUE JE SAIS D’ELLE (Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß, Jean-Luc Godard, Frankreich 1967, 29.7., zu Gast: Marina Vlady & 14.8.) „Dies ist Marina Vlady. Sie ist Schauspielerin. Sie trägt einen blauen Pullover mit zwei gelben Streifen. Sie ist russischer Herkunft. Ihre Haare sind dunkelkastanienbraun oder hell-braun, ich weiß es nicht genau“, kommentiert Jean-Luc Godard an einer Stelle des Films flüsternd aus dem Off. Seine einzige Zusammenarbeit mit Vlady ist zugleich ein Hauptwerk seiner oft als soziologisch bezeichneten Werkphase der zweiten Hälfte der 60er Jahre. Ihr liegt folgende Auffassung von Godard zugrunde: „Um heutzutage in der Pariser Gesellschaft leben zu können, muss man sich auf die eine oder andere Art prostituieren bzw. nach Gesetzen leben, die an solche der Prostitution erinnern“. Das Pronomen elle (dt. „sie“) des Titels bezieht sich dabei weniger auf die Protagonistin Juliette (Marina Vlady), deren Alltag als Ehefrau, Mutter und Gelegenheitsprostituierte der Film skizziert, sondern vielmehr auf die Region Paris, die „Brutalität des Neokapitalismus“, die Zirkulation von Ideen, die Hochhaussiedlungen der Banlieue, die Prostitution und ein halbes Dutzend weiterer Themenfelder, die Godard im Trailer zum Film auflistet. Juliette spricht frontal in die Kamera über ihre Situation und ihre Verstrickung ins kapitalistische System.
MARINA (Sylvie Carlier, Frankreich 2015, 30.7.) In knapp einer Stunde unternimmt dieses dokumentarische Porträt Marina Vladys einen Parcours durch ihre Karriere, die im Kindesalter begann und nicht zuletzt von ständigem In-Bewegung-Sein geprägt war. Er besteht aus Interviews mit Vlady und einigen Wegbegleitern, Ausschnitten aus ihren Filmen, insbesondere auch raren frühen Arbeiten, Aufnahmen ihrer Auftritte im Theater und einer Konzertreise durch Russland mit Liedern ihres früh verstorbenen dritten Ehemanns Wladimir Wyssozki. Aus der Vielfalt des Materials erschafft Sylvie Carlier ein dichtes, fesselndes Mosaik eines reichen Lebens und einer reflektierten, stets neugierigen Persönlichkeit.
UNA STORIA MODERNA – L’APE REGINA (Die Bienenkönigin, Marco Ferreri, Italien/ Frankreich 1963, 30.7., zu Gast: Marina Vlady & 29.8.) Alfonso (Ugo Tognazzi), ein adretter Mann um die 40, will auf Vermittlung seines alten Schulfreundes, eines Paters, Regina (Marina Vlady) heiraten, eine junge, in strenger katholischer Tradition erzogene Frau. Vor der Eheschließung wehrt sie sämtliche Annäherungen Alfonsos ab, entwickelt unmittelbar nach der Heirat aber einen geradezu ekstatischen sexuellen Drang, dem Alfonso sich bald nicht mehr gewachsen sieht. In seiner ersten italienischen Regiearbeit – nach drei vorher in Spanien gedrehten Werken – fand Marco Ferreri zu seiner eigenen Form der Commedia all’italiana: eine leichthändig erzählte, zunehmend satirischer und paradoxer werdende Geschichte, die verschmitzt die Absurdität bürgerlich-katholischer Bigotterie aufzeigt. Entsprechend heftig intervenierte die italienische Zensur, mit zum Teil bis heute nachwirkenden Spuren, konnte aber den großen Publikumserfolg des Werks nicht verhindern. Er bereitete den Weg für Ferreris spätere Karriere, machte Ugo Tognazzi zu einem zentralen Schauspieler der italienischen Komödie und brachte Vlady mit dem Darstellerpreis bei den Filmfestspielen in Cannes die höchste Auszeichnung ihrer Karriere ein.
SIROKKÓ (Miklós Jancsó, Ungarn/Frankreich 1969, 31.7., zu Gast: Marina Vlady) Der Film spielt im Ungarn des Jahres 1934, nahe der jugoslawischen Grenze: In der schneebedeckten Provinz trainieren Mitglieder des kroatischen faschistischen Geheimbunds Ustascha für ein Attentat auf den serbischen König Alexander I. Als der charismatische Freiheitskämpfer Marko Lazar sich weigert, seine revolutionären Ideale einem nationalistischen Zweck zu opfern, beschließen die Anführer seine Liquidierung. Schon in seinen vorangegangen Filmen hatte Miklós Jancsó Kritik an zeitgenössischen Verhältnissen in suggestive historische Stoffe gepackt. SIROKKÓ ist explizit als „Warnung von extrem-rechten radikalen Bewegungen“ formuliert. Jancsós erste Zusammenarbeit mit ausländischen Schauspieler*innen, die vom Hauptdarsteller Jacques Charrier initiiert und produziert wurde, war sein bis dahin formal radikalster Film: Er besteht aus nur zwölf Einstellungen, in denen die von János Kende verantwortete Kamera bisweilen fließend aus dem winterlichen Freien in das Innere eines Hauses dringt.
FOLLOW ME (Maria Knilli, BRD 1989, 1.8., zu Gast: Maria Knilli und Monika Aubele) Der tschechische Philosophieprofessor Pavel Navrátil, der an der Universität in Prag Philosophie unterrichtete, wird nach dem Prager Frühling von seinem Lehrstuhl entlassen. So muss er zunächst in Prag als Totengräber arbeiten und später als Gepäckträger auf einem Flughafen in einem westlichen Land. In der Fremde begegnet er verschiedenen ebenfalls gestrandeten Menschen, darunter der schwermütigen russischen Bordellbesitzerin Ljuba (Marina Vlady). Nach fünf Jahren im Ausland will Navrátil noch einmal zurück nach Prag, um endgültig Abschied zu nehmen. Maria Knilli wählt für ihren zweiten Spielfilm eine poetische, symbolhafte Filmsprache, die die Verlorenheit des Protagonisten in Bilder überträgt. Knilli hatte Vlady einige Jahre zuvor bei den Dreharbeiten zu Vojtěch Jasnýs Fernsehfilm Bis später – Ich muss mich erschießen (1984) kennengelernt.
IL SAPORE DEL GRANO (The Flavor of Corn, Gianni Da Campo, Italien 1986, 6.8., Einführung: Gary
Vanisian & 25.8) Der junge Lorenzo tritt seine erste Stelle als Lehrer in einem kleinen Dorf im Umland von Venedig an. Einer seiner Schüler ist der zwölfjährige Dullio, ein sensibler, aufmerksamer und wissensdurstiger Bauernsohn. Zwischen Lorenzo und ihm entsteht eine innige Beziehung: Lorenzo gibt ihm Privatunterricht, während Dullio ihn seiner Familie vorstellt. Die Vertrautheit der beiden weckt bald sowohl das Misstrauen von Lorenzos Vorgesetzten wie auch von Dullios Eltern. Gianni Da Campo drehte zwischen 1967 und 1986 drei Langfilme, die seinerzeit von der Kritik gelobt, aber nie vom Publikum entdeckt wurden und die noch heute durch ihre herausragende Sensibilität und ihre für die damalige Zeit kühnen Themen faszinieren (sein zweiter Spielfilm von 1970 gilt als einer der ersten italienischen Kinofilme über den Feminismus). Als Zehnjähriger hatte Da Campo Marina Vlady im Film L’età dell’amore (1953) gesehen, sich in sie verliebt und begonnen, ein ihr gewidmetes Privatarchiv aufzubauen. Diese besondere Verehrung verarbeitete Vlady in ihrem Roman „Der Sammler von Venedig“ (1990).
LA NUIT DES ESPIONS (Double Agents, Robert Hossein, Frankreich/Italien 1959, 6.8.) Während des Zweiten Weltkriegs kommt es in einer abgelegenen Berghütte zur Begegnung zweier Agenten: Der Mann (Robert Hossein) nennt sich Philip Davis, die Frau (Marina Vlady) stellt sich als Helen Gordon vor. Gleichzeitig soll eine deutsche Agentin ausgeschickt worden sein, um kriegswichtige Dokumente an sich zu bringen. Die Frau trägt Zivilkleidung, der Mann eine SS-Uniform. Eine Nacht lang nähern sich die beiden einander an, ohne den Zweifel an der Aufrichtigkeit des anderen ablegen zu können. Von den vier Filmen, die Robert Hossein zwischen 1955 und 1959 als Regisseur mit seiner damaligen Frau Marina Vlady drehte, ist LA NUIT DES ESPIONS, ihre letzte Zusammenarbeit, der experimentellste und filmisch anspruchsvollste. Aus einem Kammerspiel, das einen bisweilen ironisch gebrochenen Zugang zum Spionagefilmgenre verrät, erschafft Hossein ein Kaleidoskop der Möglichkeiten des Kinos: virtuos ausgeleuchtete Schwarz-Weiß-Kompositionen, sinnliche Großaufnahmen, eine dynamische Erschließung des engen filmischen Raums. Ende Dezember 2020 verstarb Robert Hossein im Alter von 93 Jahren. Die Präsentation zweier seiner Filmwerke im Rahmen dieser Hommage würdigt seine weitgehend vergessenen Regiearbeiten.
LA SORCIÈRE (Die blonde Hexe, André Michel, Frankreich/Schweden 1956, 7.8., Einführung: Svetlana Svyatskaya & 28.8.) Der französische Ingenieur Laurent Brulard soll in einer abgelegenen schwedischen Region den Bau einer Straße überwachen. Er ist vom Aberglauben der Bewohner dieser Gegend irritiert, will gegen ihn ankämpfen und findet darin Unterstützung von einer in ihn verliebten Grundbesitzerin. Eines Tages begegnet er Ina, einer mysteriösen jungen Frau mit leuchtend blondem Haar, die seit ihrer Kindheit im Wald lebt und die er nun in die Zivilisation bringen will. Der Film adaptiert eine Novelle des russischen Schriftstellers Aleksandr Kuprin, die in ein traumverlorenes, aber abgründiges und gleichsam archaisches Schweden übertragen wird. Vladys unschuldig-sinnliche und für die damalige Zeit freizügige Darstellung der Waldbewohnerin machte sie zum weltweiten (erotischen) Idol einer ganzen Generation von Kinogängern, ähnlich der Wirkung, die Brigitte Bardots zeitgleicher Auftritt in Et Dieu créa la femme ausübte. In Russland genießt der Film unter dem Titel „Koldunya“ bis heute Kultstatus.
SPLENDOR (Ettore Scola, Italien/Frankreich 1989, 7. & 27.8.) „Ettore Scolas SPLENDOR ist melancholisch und bitter. Als Jordan, der Besitzer des ‚Splendor‘, sein Kino verkaufen muss, gewährt er seinem Nachfolger, einem Möbelhändler, einen Preisnachlass unter der Bedingung, den Käufer öffentlich ohrfeigen zu dürfen. So geschieht es auch; aber hinter Jordans Rücken lacht der Geohrfeigte über die billige Schmach, das ‚Splendor‘ wird abgerissen, die Kinofeinde haben gesiegt. ‚Nostalghia‘ steht am Anfang des Films auf einem Plakat. Nostalgie, das ist Scolas Passwort für den Flug durch die Filmgeschichte“. (Andreas Kilb) Scolas Ode und Eloge an eine Glanzzeit des Kinos, die entsprechend auch in langen Rückblenden erzählt wird, war in gewissem Sinne auch für Vlady ein Abschied: Ihre letzte Hauptrolle in einem klassischen Studiofilm und ihr letzter von drei gemeinsamen Auftritten an der Seite ihres Freundes Marcello Mastroianni.
AVANT LE DÉLUGE (Vor der Sintflut, André Cayatte, Frankreich/Italien 1953, 10.8.) Im Zentrum dieses äußerst selten gezeigten Films stehen fünf Jugendliche, die in den unmittelbaren Nachkriegsjahren unter dem Vorzeichen des beginnenden Kalten Kriegs und der atomaren Bedrohung aufgewachsen sind. Nach dem Ausbruch des Koreakriegs beschließen sie, auf eine Südseeinsel auszuwandern. Dann wird einer der Jugendlichen zum Mörder und schließlich müssen sich alle vor Gericht verantworten. Der Prozess bildet die Klammer des Films, der vor allem die Verantwortlichkeit der Politik und der Eltern in den Blick nimmt. André Bazin pries den Film in einem Artikel in den Cahiers du cinéma: „Dieser Film stört, erschüttert den Zuschauer, stürzt ihn in ein heftiges und ungewöhnliches Unbehagen. Gleichgültigkeit ist unmöglich.“
UNA CASA IN BILICO (Tottering in the Dark, Antonietta De Lillo, Giorgio Magliulo, Italien 1986, 12.8.) „Eines Morgens, im Jahr 1985, trifft ein junges italienisches Paar in meinem Haus in Maisons-Laffitte ein, um mir eine Rolle in ihrem ersten Langfilm anzubieten. Sie scheinen nicht älter als 17 Jahre alt zu sein. Ich bin verblüfft über ihren Mut, aber mehr noch von der Handlung ihres Drehbuchs: Ein alter Verführer erbt eine große Wohnung von einer seiner Geliebten. Er beschließt, seine ältesten und besten Freunde dort anzusiedeln: einen Kindheitsfreund, der Uhren sammelt, und eine Russin, die sich um illegale Emigranten sorgt. Sie beginnen dort eine neue Existenz, bis der Verführer stirbt und sein unerwartetes Ableben eine ganze Reihe von Problemen mit sich bringt. Der Ton der Dialoge ist zart und ohne jede Spur von Gewalt. Aus ihm strömt eine bestimmte Art von Weisheit. Wir drehen ohne Zeitplan, oft auf der Straße, heimlich, mit einem Minimum an Technik, aber mit Direktton, mit sehr viel Improvisation. Es ist erschöpfend, aber das Ergebnis ist überaus schön. Wir werden von dem Paar geführt: Jeder von ihnen gibt uns der Reihe nach Anweisungen und die Synthese davon ereignet sich vor der Kamera. Genauso arbeiten auch die Gebrüder Taviani“ (Marina Vlady).
CAMPANADAS A MEDIANOCHE (Falstaff [Chimes at Midnight], Orson Welles, Spanien/Schweiz 1965, 13. & 24.8.) „Gehuldigt wird dem Titelhelden und durch ihn hindurch der Liebe zum Leben, zu den Lüsten, den Sinnesgenüssen und zu sich selbst. ‚Die größte Darstellung eines guten Mannes, der vollkommenste gute und reine Mensch in allen Shakespeare-Dramen‘, sagt Welles. Seine Güte sei wie Brot, wie Wein. Aber sein Lenz ist im Schwinden, sein Lebenssaft verrinnt, der Gefährte seiner Tollereien, Prinz Hal, kündigt, kaum König geworden, die Freundschaft auf. Wie ein verlorener Troll, kugelförmiges organisches Relikt aus Vorzeiten, schreitet er ein letztes Mal am Hof durch die aus Wäldern von Lanzen und Schildern funktional abweisend gebaute Staats-Maschine. Auch dort, wo Falstaff unter freiem Himmel im Wintergelände inszeniert ist, wirken seine Bilder wie Architektur-Kompositionen. Wie immer bei Welles erzählt die Kamera ihre eigene wollüstige Geschichte und ihren eigenen unabhängigen Film im Film.“ (Harry Tomicek)
GIORNI D’AMORE (Tage der Liebe, Giuseppe De Santis, Italien 1954, 14. &. 26.8.) In einem süditalienischen Dorf leben die ineinander verliebten Jugendlichen Angela (Marina Vlady) und Pasquale (Marcello Mastroianni). Als Kinder armer Bauern können sie nicht heiraten, weil ihre Eltern kein Geld für eine standesgemäße Hochzeit haben. Die Familien raten Angela und Pasquale daher, zum Schein zusammen durchzubrennen, um sich so die Ausgaben zu ersparen. Giuseppe De Santis hatte mit "Roma ore 11" (1952) ein Zentralwerk des Neorealismus inszeniert, das von den Zuschauern wie auch der Politik erbittert diskutiert wurde. In GIORNI D’AMORE kleidete er seine Sozialkritik in eine komödiantisch angelegte und den Romeo-und-Julia-Topos verdrehende Liebesgeschichte in der Tradition der italienischen Volkskomödie. Es war zugleich einer der ersten Farbfilme Italiens, und das strahlende Ferraniacolor seiner Bilder rückt die realistischen Aufnahmen vom harten Leben der Landbevölkerung in die Sphäre des Traumhaften.
QUE LA FÊTE COMMENCE … (Wenn das Fest beginnt …, Bertrand Tavernier, Frankreich 1975, 17.8.) Bertrand Taverniers zweiter Spielfilm erzählt eine wenig bekannte Episode aus der Geschichte der französischen Monarchie. Er setzt vier Jahre nach dem Tod des Sonnenkönigs Ludwig XIV. ein. Sein Nachfolger Ludwig XV. ist noch unmündig und so übernimmt Philipp II. (Philippe Noiret), der Herzog von Orléans, die Regentschaft. An sich liberal und reformbereit, durchschaut er das höfische System der gegenseitigen Vorteilsnahme und Bereicherung, ist aber zu sehr von den Vergnügungen des Hoflebens fasziniert, als dass er Änderungen durchsetzen wollte. QUE LA FÊTE COMMENCE … übt zwar offensichtlich Kritik an der Verdorbenheit der Mächtigen und der Dekadenz des Adels, inszeniert das Übel aber zugleich selbst auf barocke und epische Art. So korrespondiert er mit dem im gleichen Jahr veröffentlichten SALÒ O LE 120 GIORNATE DI SODOMA (31.8.) sowie mit Ferreris LA GRANDE BOUFFE (1973) – eine provokante Vision des politischen Kinos. Diese Vorführung erinnert an den vielseitigen Filmemacher Bertrand Tavernier, der im März 2021 im Alter von 79 Jahren verstarb.
LA RAGAZZA IN VETRINA (Mädchen im Schaufenster, Luciano Emmer, Italien/Frankreich 1960, 19.8., Einführung: Claus Löser & 27.8.) Der junge Italiener Vincenzo (Bernard Fresson) reist, wie Tausende anderer Landsleute in den 50er und 60er Jahren, in die Niederlande, um dort durch körperliche Arbeit Geld zu verdienen. Er findet Arbeit in einem Steinkohlebergwerk, wo unmenschliche Verhältnisse herrschen. Eines Tages werden er und sein Landsmann Federico (Lino Ventura) verschüttet und erst nach Tagen befreit. Vincenzo will daraufhin wieder nach Italien zurückkehren und sich vor der Abreise im Rotlichtviertel von Amsterdam amüsieren. Dort begegnet er an einem der Schaufenster der Prostituierten Else (Marina Vlady). LA RAGAZZA IN VETRINA, an dessen Drehbuch unter anderem Pier Paolo Pasolini mitarbeitete, beginnt als sozialkritisches Porträt des Lebens italienischer Arbeitsmigranten, während die zweite Hälfte einen verträumt-idyllischen Gegenpart bildet. Gerade ob des ersten Teils hatte der Film erhebliche Probleme mit der italienischen Zensur, blieb unbeachtet und Luciano Emmer konnte bis Anfang der 90er Jahre keinen Kinofilm mehr finanzieren. Erst vor einigen Jahren wurde sein kraftvolles, altersloses Werk wiederentdeckt.
ŐK KETTEN (Zwei Frauen, Márta Mészáros, Ungarn/ Frankreich 1977, 20. & 28.8.) Mária (Marina Vlady) ist seit 20 Jahren verheiratet und Mutter zweier fast erwachsener Kinder. Sie wird zur Leiterin eines Frauenwohnheims in der Provinz ernannt und lernt dort die jüngere Juli kennen, die mit ihrer siebenjährigen Tochter vor ihrem trunksüchtigen Mann in das Heim geflüchtet ist. Mária nimmt Anteil am Schicksal Julis und beginnt dadurch, ihre eigene Ehe zu hinterfragen. Ein weitgehend unbekannter Film im Œuvre von Márta Mészáros, ist ŐK KETTEN ein poetisches und einfühlendes Porträt der Annäherung und Solidarisierung zweier Frauen. In Zusammenarbeit mit dem Kameramann János Kende schuf sie stille und in ihrer Intimität überaus poetische Bilder, die manchmal geradezu dokumentarisch wirken. In einer Szene des Films läuft Vlady neben Wladimir Wyssozki bei nächtlichem Laternenschein über eine schneebedeckte Allee, zum Abschied küssen sie sich innig – es blieb die einzige gemeinsame Filmszene der damaligen Ehepartner.
PARDONNEZ NOS OFFENSES (Die Wölfe, Robert Hossein, F 1956, 20.8.) Robert Hosseins zweite Filmregiearbeit, eine seit vielen Jahren nirgends mehr aufgeführte Rarität, spielt an den Ufern eines großen Binnenhafens, wo eine Bande junger Männer und Frauen das Zentrum ihres Handels mit Whiskey und Zigaretten aufgebaut hat. Ihr Anführer René und die gute Seele der Gruppe, der Tomboy Dédée (Vlady), suchen dort auch Zuflucht vor der Aggression und der Vernachlässigung in ihren Familien. Sie alle träumen davon, die tristen Docks zu verlassen und mit einem Schiff zu richtigen Stränden aufzubrechen. Eines Tages trifft eine große Roma-Gruppe nahe ihrem Wirkungsort ein. Aus anfänglicher Sympathie und Zuneigung, vor allem zwischen Dédée und dem jungen Roma, Vani (Giani Esposito), entsteht bald ein verhängnisvoller Kreislauf von Gewalt und Rache. Wie viele von Hosseins Filmen lebt PARDONNEZ NOS OFFENSES nicht zuletzt von der stimmungsvollen Atmosphäre, die größere Nähe zu der Märchenhaftigkeit eines Films wie Valahol Európában (Irgendwo in Europa, 1947) aufweist denn zu den sogenannten Halbstarken-Filmen, die in jenen Jahren in den USA und in Europa für Aufsehen sorgten und auf die Hossein rekurriert.
ADORABLE MENTEUSE (Das Spiel der Lüge, Michel Deville, Frankreich 1962, 21.8.) Die zwei Schwestern Juliette und Sophie sind beruflich und im Liebesleben erfolgreich, aber jede auf ihre eigene Art: Sophie (Macha Méril) will ihren Verlobten mit unerbittlicher Wahrheit zur Heirat bringen, während Juliette (Marina Vlady) die Männer beschwindelt und belügt. Deville drehte in den 60er Jahren zahlreiche Komödien, die für ihre verspielte und von der Nouvelle Vague inspirierte Inszenierung und die raffinierte Komik geschätzt wurden. „Für Deville waren die permanenten Anspielungen, die zwischen den Zeilen eines Textes steckten, der etwas niedlich wirkte, das Wichtigste. Es hat uns sehr viel Spaß gemacht zu spielen, denn während wir Worte von großer Banalität aussprechen, konnten wir durch das Spiel unserer Blicke widerlegen, was wir taten, und den Situationen so ihre ganze Würze verleihen“. (Marina Vlady)
CRIME ET CHÂTIMENT (Schuld und Sühne, Georges Lampin, Frankreich 1956, 21.8.) „Réné Brunel (Robert Hossein) ist nicht Raskolnikow, Paris ist nicht Sankt Petersburg. Doch die alte Geschichte von verbrecherischer Verstrickung und religiöser Läuterung ist auch im Paris der 50er Jahre die gleiche wie 90 Jahre zuvor in der Zarenstadt an der Newa. Der Regisseur Georges Lampin, selbst in Petersburg geboren, hat seine Adaptation des Dostojewski-Romans, CRIME ET CHÂTIMENT aus dem Jahr 1956, im damaligen Gegenwartsparis spielen lassen. Der Film schmilzt die literarische Vorlage auf ihre kriminalistische Essenz ein, ohne doch die philosophischen Implikationen ganz aus dem Blick zu verlieren. Die morbide Ausstrahlung verfallener Bauten in alten Pariser Quartieren tut ein Übriges, um die bedrückende Atmosphäre des Romans zu beschwören. Der Film bezeugt mit jeder Einstellung den versierten Blick seines Regisseurs und ein unaufdringliches Können, das sich ganz in den Dienst der Geschichte stellt. Überdies erfreut er mit glänzenden Schauspielerleistungen. Im Bistro an der Ecke schenkt Lino Ventura den Kaffee aus, Jean Gabin mimt einen knorrigen Kommissar“. (Steffen Jacobs)
TANGOS – EL EXILIO DE GARDEL (Tangos – Das Exil des Gardel, Fernando Solanas, Argentinien/Frankreich 1985, 22.8.) Eine vom argentinischen Militärputsch 1976 ins Pariser Exil vertriebene argentinische Tanzgruppe probt eine „Tanguedia“ ein: eine Mischung aus Tragödie und Komödie auf der Grundlage des Tangos, inspiriert vom Exilleben des berühmten Tango-Musikers Carlos Gardel. TANGOS – EL EXILIO DE GARDEL verwebt seine Episoden mit der Musik von Astor Piazzolla und betörenden Tangochoreografien, die sich als getanzte „Flüchtlingsgespräche“ offenbaren. „Ich wollte die Geschichte der Musik und der Kreativität und die eigene Geschichte der Exilierten miteinander verschmelzen“. (Fernando Solanas) Der dem Arsenal sehr verbundene Fernando Solanas starb im November 2020 in Paris, wohin er 1976 selbst ins Exil vor der argentinischen Militärdiktatur gegangen war.
PENNE NERE (Black Feathers, Oreste Biancoli, Italien 1952, 23.8.) Das junge Paar Pietro (Marcello Mastroianni) und Gemma (Marina Vlady) lebt in einem Dorf in den italienischen Alpen an der Grenze zu Österreich. Als sie sich verloben, bricht der Zweite Weltkrieg aus. Während Gemma in ihrem Heimatort bleibt, nimmt Pieri am Krieg der italienischen Truppen in Albanien teil. Nach dem Waffenstillstand im September 1943 begibt er sich auf den langen und beschwerlichen Weg nach Hause, während Gemma sich daheim ebenfalls Gefahren ausgesetzt sieht. PENNE NERE ist ein vielsagender Spiegel seiner Entstehungszeit: ein Italien, das nach dem Ende des Faschismus seine moralischen Werte wiederzufinden sucht und dafür eine eigene, höchst zwiespältige Sicht auf die Kriegsereignisse anstellt. Erstmals spielte Vlady an der Seite von Marcello Mastroianni – beider jugendliche Reinheit wirkt wie ein Gegengewicht zum Ansatz des Films, aus dem Stoff einen mitreißenden Kriegsfilm zu machen.
QUELQUES JOURS DE RÉPIT (A Few Days of Respite, Amor Hakkar, Frankreich 2010, 30.8.) Hassan und Moshen sind aus dem Iran geflüchtet, wo sie als schwules Paar von der Todesstrafe bedroht sind. Auf dem Weg nach Paris landen die beiden illegal nach Frankreich eingereisten Männer in einer Kleinstadt im französischen Jura. Dort begegnet Moshen der etwa 60-jährigen Witwe Yolande (Marina Vlady), die Gefallen an dem zurückhaltenden Fremden findet und ihm Arbeit anbietet. Er verschweigt ihr die Existenz seines Partners und lässt sich auf eine Affäre mit ihr ein. QUELQUES JOURS DE RÉPIT ist ein ruhig erzählter und zugleich durch seine tragische Vorbestimmtheit ungemein bewegender Film. Marina Vladys Darstellung der sich nach Zärtlichkeit und Nähe sehnenden Yolande gehört zu den denkwürdigsten und mutigsten Schauspielleistungen ihrer Karriere. (gv)
Das Programm wurde ermöglicht durch eine Förderung des Hauptstadtkulturfonds.