Der Regisseur Abbas Kiarostami (1940–2016) ist der bedeutendste Vertreter des modernen iranischen Kinos und einer der angesehensten Autorenfilmer weltweit. Auch als Maler, Fotograf und Lyriker fand er große internationale Beachtung. Erst seit Kurzem sind seine frühen Filme restauriert und mit englischen Untertiteln verfügbar, was wir zum Anlass nehmen, eine umfangreiche Retrospektive seines Werks zu präsentieren.
Mit WO IST DAS HAUS MEINE FREUNDES? (1987) und UND DAS LEBEN GEHT WEITER (1992) setzte Kiarostami den nach der Islamischen Revolution in Bedeutungslosigkeit versunkenen iranischen Film wieder auf die Landkarte des Weltkinos. Jenseits der offiziellen Bilder ermöglichte er seit den 70er Jahren so tiefe wie überraschende Einblicke in sein Land. Vor allem seine frühen Kurzfilme und mittellangen Arbeiten funktionieren über ihre visuellen Qualitäten hinaus auch als Zeitdokumente. Sie halten den Alltag und den gesellschaftlichen Wandel im Iran fest und loten eigensinnig die Wechselwirkung zwischen Wirklichkeit und Kunst aus.
Abbas Kiarostami steht für ein Kino der Freiheit in einem umfassenden Sinn – formal wie inhaltlich. Es ist ein Kino, das in einem totalitären Land, inmitten von staatlich verordneten, fundamentalistischen religiösen Regeln etwas anderes ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt: den Diskurs, den Disput, die Fragen, die das Leben mit sich bringt. Diese freiheitliche Haltung durchdringt sein Kino bis in die Details des Bildes. Denn für Kiarostami bedeutet Offenheit stets auch die Durchlässigkeit des filmischen Rahmens. Seine bevorzugte Einstellung ist die mit fest stehender Kamera aufgenommene Totale, die jedoch alles andere als statisch ist. Viele Kiarostami-Filme spielen im Inneren eines Autos. Nebenbei wird die Landschaft, werden Dörfer und Passanten zu einem Film im Film, der an der Fensterscheibe vorbeizieht.
Seine Vorliebe für die Arbeit mit nicht-professionellen Darsteller*innen mag damit zusammenhängen, dass der Autodidakt Kiarostami zu Beginn seiner Laufbahn fast ausschließlich mit Kindern arbeitete: Nachdem er sein Studium an der Teheraner „School of Fine Arts“ abgeschlossen hatte, arbeitete er in den 60er Jahren zunächst als Designer und Illustrator in der Werbebranche, entwarf Poster und drehte über 150 Werbefilme. 1970 begann er, die Filmabteilung des Teheraner „Instituts für intellektuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen“ („Kanoon“) aufzubauen. Hier entstanden zunächst Lehr- und Kurzfilme, die ihre aus der Perspektive von Kindern erlebten Dramen aus alltäglichen Situationen und Lebensumständen schöpfen.
Mit ihren ausführlichen, unvorhersehbaren und manchmal aberwitzigen Gesprächen und Disputen erzeugen Kiarostamis Filme einen fließenden Rhythmus der Rede und der Erzählung. Es ist ein Fluss, der die Auffassungen, Ansichten und Weltsichten seiner Figuren mitnimmt, ihnen ihren Eigenwert lässt und sie nie gegeneinander ausspielt.
Sind Abbas Kiarostamis Filme soziale Parabeln, philosophische Metaphern, Geschichten aus dem persischen Reich der Rede, Alltagseinblicke? Sicher ist, und auch das gehört zur Freiheit dieses Kinos, dass es uns keine Lesart aufdrängt. Auf unaufgeregte, gelassene, oft heitere Weise erörtert es existenzielle Fragen mit der Beiläufigkeit einer Taxifahrt, eines Brotkaufs, eines Spaziergangs durch einen Olivenhain. Abbas Kiarostami macht großes Kino, das uns seine Größe nicht aufdrängt.
Die von Anke Leweke kuratierte Retrospektive wird begleitet von Einführungen und von Videobotschaften von Freund*innen und Kolleg*innen Kiarostamis aus dem Iran. Zudem freuen wir uns, David Streiff, den ehemaligen Direktor des Filmfestivals von Locarno, Kiarostamis Übersetzerin und künstlerische Mitarbeiterin Massoumeh Lahidji sowie den Regisseur Mani Haghighi zu begrüßen. Am 10. Oktober wird im Rahmen des sonntäglichen Nachmittagsprogramms für Kinder und ihre Familien, „Großes Kino, kleines Kino“, ein Kurzfilmprogramm mit Filmen Abbas Kiarostamis gezeigt.
NAN VA KOUTCHEH (The Bread and Alley, Iran 1970, 2. & 6.10.) „Mein erster Film handelt von einem Jungen, der mit einem Stück Brot in der Hand auf dem Nachhauseweg an einem Hund vorbeigelangen muss. Der Hauptdarsteller war ein siebenjähriger Junge und kein professioneller Darsteller, der Hund war kein professioneller Hund, und ich war kein professioneller Regisseur.“ (Abbas Kiarostami)
KHANE-YE DOUST KODJAST (Wo ist das Haus meines Freundes?, Iran 1987, 2.10., zu Gast: David Streiff) Ein Junge verwendet seine ganze Energie darauf, seinem Klassenkameraden das versehentlich eingepackte Hausaufgabenheft zu bringen. Diese Ausgangssituation führt zu einem Akt der Solidarität. Auf seinen Wegen ins nächste Dorf nimmt der Junge den Kampf mit der Engstirnigkeit und Ignoranz der Erwachsenenwelt auf. Die Kamera begleitet diese Mission mit großer Ruhe, so als gäbe es nichts Wichtigeres im Universum. Zum Vorschein kommt die grundlegende Haltung von Kiarostamis Kino: im vermeintlich Einfachen das Universelle zu finden. WO IST DAS HAUS MEINES FREUNDES? ist der erste Teil der 1992 und 1994 weitergeführten Trilogie, deren Schauplatz die nordiranische Provinzstadt Koker ist. Balancierend zwischen Fiktion und Dokumentation, Komödie und Tragödie, verströmt sie Kiarostamis tiefen Humanismus und seine heitere Raffinesse. Mit jedem weiteren Film führt uns Kiarostami tiefer in die „Realität“ hinter den Kulissen des vorangegangenen Films. Womöglich gibt es in diesem Spiel mit Schein und Sein nur eine Wirklichkeit: die menschlichen Beziehungen, die sowohl einen Film als auch ein Dorf tragen.
ZENDEGI VA DIGAR HICH (Und das Leben geht weiter, Iran 1992, 5.10., Einführung: Ulrich Köhler) Ein Regisseur, das Alter Ego Kiarostamis, fährt durch die vom Erdbeben zerstörte Region im Norden des Iran. Auf der Suche nach den beiden Kinderdarstellern seines vorherigen Films WO IST DAS HAUS MEINES FREUNDES? begegnet er einem Liebespaar, das unmittelbar nach dem Erdbeben geheiratet und sich schon in einem halbwegs bewohnbaren Haus eingerichtet hat. Er trifft auf Menschen, die versuchen, eine Fernsehantenne einzurichten, um ein Fußballspiel anzuschauen. Gefundene und erfundene Szenen mischen sich, es entsteht ein Rhythmus aus den Fragen des wegesuchenden Fahrers, Gesprächen im Wagen und dem Anhalten in der Stille der Zerstörung.
ZIR-E DERAKHATAN-E ZEYTUN (Quer durch den Olivenhain, Iran 1994, 8. & 16.10.) Der dritte Teil der Trilogie handelt von den Dreharbeiten des vorherigen. Erzählt wird nun der „wirkliche“ Hintergrund der beiden Laiendarsteller Hossein und Tahereh, die in UND DAS LEBEN GEHT WEITER das frisch verheiratete Paar spielen: Er, ein analphabetischer Maurer, wirbt um sie, die aus einer gebildeteren Familie kommt. Offen im Gespräch verhandelte Klassenunterschiede treffen auf den Gegensatz zwischen der Landbevölkerung und der Filmcrew aus der Stadt. Die energische Produktionsassistentin sammelt Blumentöpfe für den Bildhintergrund, während sich die Gefühle zwischen den Filmklappen ihre eigene Wahrheit suchen.
GOZARESH (The Report, Iran 1977, 3. & 24.10., Einführung: Mani Haghighi) Angesichts des ersten abendfüllenden Spielfilms von Abbas Kiarostami stellt sich die Frage, wie seine Filmografie verlaufen wäre, wenn die Iranische Revolution nicht stattgefunden hätte. THE REPORT zeigt ein Ehepaar aus der säkularen Mittelschicht, das von einer Agonie und Orientierungslosigkeit infiziert zu sein scheint. Wie ein Fremder im eigenen Leben bewegt sich der Finanzbeamte Mahmoud durch die Behörde, durch Kneipen, Bars und durch die kleine Wohnung, in der er mit Frau und Kind lebt. Die Spannungen in der Gesellschaft am Vorabend der Revolution spiegeln sich in den endlosen Streitereien des Paares. Der Film bleibt distanziert, behält den nüchternen Tonfall eines „Reports“. Dieser nicht von Kanoon produzierte Film ist nicht mehr vollständig erhalten. Am 24.10. ist THE REPORT erstmals mit einem Audiokommentar des Regisseurs zu sehen.
TADJREBEH (Experience, Iran 1973, 6.10.) Geschickt jongliert der 14-jährige Mohammad ein Tablett mit Teegläsern über eine befahrene Straße zum Fotostudio, in dem er arbeitet. Die Fotos, die er in Alben klebt, zeigen eine Welt, die nicht die seine ist. Von sich selbst entwickelt er das Bild eines aufstrebenden Jungen. Er verliebt sich in ein Mädchen aus der wohlhabenden Nachbarschaft, lässt seine kaputten Schuhe auf Hochglanz polieren, bringt seinen zu großen Anzug zur Reinigung und versucht, eine Anstellung im Haus ihrer Eltern zu bekommen. Ein Melodram aus dem Teheraner Alltag vor der Revolution.
OÙ EN ÊTES-VOUS, JAFAR PANAHI? (Jafar Panahi, 2016, 6.10.) Eine kurze Hommage an den gerade verstorbenen Abbas Kiarostami: Jafar Panahi, der das Filmemachen als Regieassistent von Kiarostami lernte, sitzt mit einem befreundeten Kollegen im Auto. Sie wollen Blumen zum Grab bringen. Erinnerungen werden wach, die Sonne scheint, und immer wieder klingelt das Handy.
MOSSAFER (The Traveller, Iran 1974, 6. & 16.10.) und LEBASSI BARAYE AROSSI (A Wedding Suit, Iran 1976, 6. & 16.10.) Aus der Perspektive von Kindern kann das Leben zum Actionfilm, Roadmovie, Thriller oder Drama werden. Ständig ist der zehnjährige Ghassem aus THE TRAVELLER in Bewegung. Um seinen Traum zu erfüllen, zu einem Fußballspiel nach Teheran zu fahren, lügt und betrügt er. Das Geld für die Fahrt bringt er schließlich zusammen, doch weitere Hindernisse folgen.
A WEDDING SUIT spielt in einer Einkaufspassage, wo der stille Hassan bei einem Schneider arbeitet. Gerade wurde ein neuer Hochzeitsanzug für einen Jungen aus reichem Haus fertiggestellt. Zwei von Hassans Freunden führen das Kleidungsstück für eine Nacht aus. Werden sie auffliegen?
KLOSE AP, NEMA Y-E NAZDIK (Close-Up, Iran 1990, 4. & 15.10.) handelt von der Sehnsucht, jemand anders zu sein und von Fiktionen, die das Leben lebendiger machen. Der arbeitslose Drucker und leidenschaftliche Kinogeher Sabazian gibt sich als der berühmte Regisseur Mohsen Makhmalbaf aus. Als er der wohlhabenden Familie Ahankhah von seiner Idee erzählt, einen Film über sie zu drehen, fühlt man sich geehrt und bewirtet Sabazian großzügig. Der Schwindel fliegt auf, Sabazian muss sich vor Gericht verantworten. Kiarostami bekam die Erlaubnis, den Prozess zu filmen, die Beteiligten konnte er davon überzeugen, sich selbst darzustellen – auch Mohsen Makhmalbaf. Die Grenzen zwischen der Kunst und der Welt, in der sie entsteht, bleiben in diesem hybriden Werk fließend.
MANAM MITOUNAM (So Can I, Iran 1975, 15.10.) Ein Junge imitiert ein springendes Känguruh, einen kriechenden Wurm und ein wühlendes Mäuschen – der Identitätswechsel als Kinderspiel.
ROADS OF KIAROSTAMI (Südkorea/Iran 2005, 7.10., zu Gast: Massoumeh Lahidji) „Ich habe etliche Fotografien von Straßen in den verschiedensten Landschaften gemacht, ohne mir des gemeinsamen Themas bewusst zu sein.“ (Abbas Kiarostami) Fotografien und kurze Filmsequenzen von Straßen in unterschiedlichen Landschaften und während wechselnder Jahreszeiten werden ineinander geblendet. Aus dem Off reflektiert der Regisseur seine Leidenschaft: In der persischen Poesie, seiner ersten Inspirationsquelle, sei die Straße ein Leitmotiv: „Sie ist Exil, Wind, Musik, Reise und Ruhelosigkeit.“
GHAZIEH-E SHEKL-E AVAL, GHAZIEH-E SHEKL-E DOU WOM (First Case, Second Case, Iran 1979, 7.10., zu Gast: Massoumeh Lahidji & 25.10.) Ein Schüler stört wiederholt den Unterricht. Da seine Freunde ihn nicht denunzieren wollen, dürfen sie für eine Woche nicht am Unterricht teilnehmen. Den Film über diesen Schulstreich zeigt Kiarostami Erziehern, Mullahs, Regierungsbeamten und Männern mit einfachem Bildungshintergrund und interviewt sie dazu. Eine alltägliche Situation aus einem Klassenzimmer führt zu der Frage, welche Rolle die Jugendlichen später in der Gesellschaft übernehmen werden. Was ist wichtiger, Solidarität oder Gehorsam?
MASHGH-E SHAB (Homework, Iran 1989, 8.10.) Ein Schüler steht mit dem Rücken an der Wand, während Kiarostami seinen Assistenten bittet, das Licht für die Szene einzurichten. Er will von seinem kleinen Gegenüber wissen, warum er seine Hausaufgaben nicht gemacht hat. Mit weiteren Schülern kommen neue Geschichten vor die Kamera. Die Eltern sind überarbeitet oder Analphabeten, um die Kinder kümmern sich die älteren Schwestern, Lob gibt es selten oder nie. Der Regisseur wird zum investigativen Reporter. Er deckt die Mängel eines Schulsystems auf, das die Lebenswirklichkeit der Kinder übersieht.
HAMSARAYAN (The Chorus, Iran 1982, 8.10.) Ein älterer Mann ist des Lärms seiner Umgebung müde und schaltet sein Hörgerät aus. Die Welt verstummt. Zurück in seiner Wohnung überhört er das Klingeln seiner Enkelin. Schulmädchen versammeln sich vor dem Fenster des Alten, rufen, schreien, singen, während dieser in aller Ruhe seinen Tee trinkt. Wann wird er endlich aus dem Fenster schauen?
TA’M E GUILASS (Der Geschmack der Kirsche, Iran/F 1997, 9. & 18.10., Einführung: Katja Nicodemus) Ein zum Suizid entschlossener Mann nimmt in seinem Auto wechselnde Mitfahrer mit. Wären sie bereit, ihn nach seinem Tod zu beerdigen? Parallel zur kurvigen Strecke über ockerfarbene und langsam grüner werdende Hügel verlaufen die philosophischen Windungen der Unterhaltung im Auto – zwischen Geplänkel, quasisokratischen Dialogen und Alltagsberichten. Das Für und Wider von Leben und Sterben findet keine Auflösung, doch die Beschreibung eines Sinneseindrucks bringt den Suizidplan immerhin ins Wanken: Ein alter Mann schwärmt vom Geschmack und der Konsistenz frischer Maulbeeren.
RAH HAL-E YEK (Solution, Iran 1978, 9.10.) Ein rauchender Mann steht mit einem reparierten Autoreifen an einer vielbefahrenen Straße. Er möchte zu seinem Auto zurücktrampen, jedoch fährt niemand in seine Richtung. Musik setzt ein, Vögel fliegen durchs Bild. Der Mann setzt sich in Bewegung und rollt den Reifen vor sich her. Ein Roadmovie zu Fuß durch eine erhabene Schneelandschaft.
BAD MA RA KHAHAD BORD (Der Wind wird uns tragen, Iran/F 1999, 9. & 15.10.) Ein Fremder aus der Großstadt besucht ein abgelegenes Bergdorf, um ein seltenes Trauerritual zu dokumentieren. Doch die alte Frau, auf deren Tod er wartet, will nicht sterben. Während sie hinter einem kleinen Fenster unsichtbar bleibt, produziert ihr Zustand immer neue Zeichen des Lebens. Kommende und gehende Verwandte, ein im Hof wachender Sohn, Nachbarn, die Suppe bringen. Auch dieser Film von Abbas Kiarostami ist mehr als die Geschichte, die sich aus seinen Begegnungen und Situationen zusammensetzt: ein dialektisches Ganzes, eine fließende Komposition, immer in Bewegung und dabei jeden Augenblick im Gleichgewicht. Ein Mann kommt aus der Fremde und lernt das Sehen.
ABC AFRICA (F/Iran 2001, 10.10.) Auf Einladung der UN fahren Kiarostami und sein Regieassistent Seifollah Samadian nach Uganda, um die Arbeit der Organisation „Uganda Women’s Effort to save Orphans“ kennenzulernen, die sich der Kinder von an Aids verstorbenen Eltern annimmt. Im Gepäck haben die Filmemacher ihre ersten digitalen Kameras. Zurück in Teheran will man den Dreh vorbereiten, doch das mitgebrachte Material ist so überzeugend, dass sich eine weitere Reise erübrigt. „Ich hatte das Gefühl“, so Kiarostami, „dass eine 35-mm-Kamera sowohl uns als auch die Menschen dort einschränken würde, während die Videokamera die Wahrheit aus jedem Blickwinkel zeigt, und nicht eine gefälschte Wahrheit.“
DAH (Ten, F/Iran 2002, 13. & 28.10.) Die überfüllten Straßen Teherans aus der Perspektive einer Taxifahrerin. Der kleine Sohn mit patriarchalischem Selbstbewusstsein, eine Prostituierte, eine tiefreligiöse Frau, Freundinnen und zufällige Mitfahrerinnen geraten ins Visier der ans Armaturenbrett montierten Kameras. Den Frauen gemeinsam ist die Abhängigkeit von Ehemännern und Verlobten, das Warten auf die Reaktion des Mannes. Die Fahrerin wird zur Kameradin, Schwester, Therapeutin, sie stachelt an, beruhigt und beschwichtigt. Zwischen Stadtautobahnen, Parklücken und Staus entsteht das Bild einer Frau, die ihren Leidensgenossinnen um einiges voraus ist und doch um die begrenzte Subversion der Gespräche im Wageninneren weiß.
DO RAH-E HAL BARAYE YEK MASSALEH (Two Solutions For One Problem, Iran 1975, 13.10.) Eine Mini-Hommage an Laurel & Hardy, ein Tit for Tat („Wie Du mir, so ich Dir“) in einem iranischen Klassenzimmer: ein zerrissenes Heft, ein blaues Auge, ein verbundener Kopf. Dieser für Kanoon gedrehte Erziehungsfilm liebt Anarchie und Subversion, bevor er zur Versöhnung aufruft.
COPIE CONFORME (Die Liebesfälscher, F 2009, 14.10., Einführung: Patrick Wellinski) Juliette Binoche besuchte Kiarostami in Teheran, so entstand die Idee zu Kiarostamis erstem außerhalb des Iran gedrehten Spielfilm: In einem Café in einem kleinen toskanischen Städtchen werden ein Mann und eine Frau (Juliette Binoche), die sich gerade erst kennengelernt haben, irrtümlich für ein Paar gehalten. Die Frau nimmt die Rolle der Ehefrau an, simuliert die Liebe, die sie vielleicht schon empfindet. Auch er macht mit, bleibt aber auf Distanz und hinterfragt als Liebesskeptiker die Gefühle in einer Welt des Scheins. Diese gefälschte Wahrheit inszeniert Kiarostami in aller Beiläufigkeit, während das „Paar“ durch enge Gassen und über sonnige Plätze flaniert. Vielleicht treibt auch der Regisseur ein Spiel mit dem Publikum: Waren die beiden vielleicht einst ein Liebespaar? Ist die Liebe ein Vexierbild?
FIVE DEDICATED TO OZU (Iran/Japan/F 2003, 17.10.) Ein Stückchen Holz im Spiel der Wellen, schnatternde Enten watscheln durchs Bild, in der Morgendämmerung wachen die Wildhunde auf, räkeln und schütteln sich – fünf Momentaufnahmen vom Kaspischen Meer, aufgenommen mit statischer Kamera. Es entsteht ein kontemplativer Rhythmus, der uns die Welt neu hören und neu sehen lässt.
RANG-HA (Colours, Iran 1976, 17.10.) Rot wie geschminkte Lippen oder das Innere eines Granatapfels, schwarz wie die Schleier dreier Frauen oder die Tafel in der Schule. Mit jeder Farbe werden in diesem heiteren Lehrfilm Gebrauchsgegenstände oder Alltagsimpressionen assoziiert.
76 MINUTES AND 15 SECONDS WITH ABBAS KIAROSTAMI (Seifollah Samadian, Iran 2016, 17.10.) Abbas Kiarostami in Action. Sein Freund und Mitarbeiter Samadian schaut ihm über die Schulter und filmt: Wie Kiarostami aus dem Auto steigt, mit seinem Fotoapparat einen einsamen Baum in der Landschaft ins Visier nimmt. Wie er der vorgefundenen Wirklichkeit einen Rahmen gibt oder diese inszeniert. Man sieht, wie Kiarostami und sein Team die Enten aus dem kontemplativen Bildessay FIVE trainieren und choreografieren. Für den passenden Sound klopfen sie mit den Händen auf einen eigens aufgetürmten Sandhaufen – so schön und so authentisch kann das Watscheln von Enten klingen.
TAlAYE SORKH (Crimson Gold, Jafar Panahi, Iran 2003, 19.10.) Nach einem Drehbuch von Abbas Kiarostami: Im Iran werden die Männer, die im Irakkrieg gekämpft haben, als Märtyrer verehrt. Doch wie sieht ihr Alltag aus? Hossein ist Pizzabote und wohnt im ärmeren Süden der Stadt, seine Touren bringen ihn in den wohlhabenden Norden. Es ist eine für ihn fremde, nicht erreichbare Welt. Ein ehemaliger Kamerad fertigt ihn mit einem übertrieben hohen Trinkgeld ab. Den Schmuck, den er für seine Verlobte kaufen möchte, kann er sich nicht leisten. Der Film erzählt die Vorgeschichte eines Überfalls als sozial-topografische Exkursion durch Teheran mit surreal wirkenden Tableaus leerer Luxuswohnungen, deren Besitzer*innen sich ins Ausland abgesetzt haben.
KARGARAN MASHGHOOL-E KARAND (Men at Work, Mani Haghighi, Iran 2006, 20.10., zu Gast: Mani Haghighi) Ein SUV fährt eine kurvige Hügelstraße entlang, seine Insassen sind ein Arzt, ein Ingenieur und ein Geschäftsmann in der Midlife-Crisis. Am Straßenrand entdecken sie einen phallischen Felsen, von dem sie sich provoziert fühlen. Sie beschließen, ihn in den Abgrund zu stürzen, attackieren ihn mit Abschleppseilen und improvisierten Rammböcken. In dieser aberwitzigen Versuchsanordnung haben Männer aus der iranischen Mittelschicht nichts Besseres zu tun, als ihre Kraft an einen Brocken Stein zu verschwenden. Ein Jahr lang arbeitete Mani Haghighi als Kiarostamis persönlicher Assistent, belohnt wurde er mit der Idee zu dieser Geschichte.
BE TARTIB YA BEDUN-E TARTIB (Orderly or Disorderly, Iran 1981, 25.10.) und HAMSHAHRI (Fellow Citizen, Iran 1983, 25.10.) Beide Filme entstanden kurz nach der Iranischen Revolution, als in dem Land fast keine Filme gedreht wurden. ORDERLY OR DISORDERLY ist ein Lehrfilm zum Thema Ordnung und Unordnung und der Versuch, das Chaos des Lebens zu filmen. Immer wieder hört man das diskutierende Filmteam aus dem Off, während dieselbe Handlung in zwei verschiedenen Auflösungen gezeigt wird: Einmal stürmen Jungen wild in den Schulbus, einmal stehen sie in Reih und Glied an. Niemand hält sich an die Regeln, ein Gegenbild der Ordnung lässt sich nicht finden. In HAMSHAHRI wiederum zeigt die Kamera die Perspektive eines Straßenpolizisten. Nur wer einen Passierschein hat, darf in die Innenstadt. Es wird gefeilscht, gelogen und verhandelt. Manche Autos werden durchgewinkt, andere müssen umkehren. Die Willkür auf der Straße als Zustandsbeschreibung eines Landes?
10 ON TEN (Iran 2003, 27.10.) Abbas Kiarostami nimmt an seinem Lieblingsort Platz und geht seiner Lieblingsbeschäftigung nach. Er sitzt hinter dem Steuer und fährt – durch die Landschaft seines Films DER GESCHMACK DER KIRSCHE. Wie in TEN ist die Kamera am Armaturenbrett montiert. In zehn Kapiteln führt uns der Regisseur in seine besondere Art des Filmemachens ein und betont: „This is my way“.
SHIRIN (Iran 2008, 30.10.) 113 Frauengesichter in Großaufnahme. Es handelt sich um prominente iranische Schauspielerinnen, mit dabei ist auch die Französin Juliette Binoche. Die Frauen scheinen im Kino zu sitzen, sie sehen einen Film, den wir nur hören. Wir nehmen ihre Reaktionen und Gefühle wahr. Ob diese gespielt oder echt oder vom Regisseur inszeniert sind, ist letztlich unerheblich, erzeugen sie doch eine Wahrhaftigkeit, die dem Publikum ermöglicht, einen eigenen Film zu imaginieren.
LIKE SOMEONE IN LOVE (F/Japan 2012, 30.10.) Eine alltagsphilosophische Versuchsanordnung in Tokio. Schon das „Like“ im Titel legt nahe, dass die Menschen, denen wir hier an einem Nachmittag begegnen, in ihrem Leben Rollen spielen und nur so tun „als ob“ – wie wir alle? Der Poet Kiarostami, der selbst gerne Haikus schrieb und den Regisseur Yasujiro Ozu verehrte, schaut sich um im Reich der Zeichen. Er beobachtet eine Studentin, die als Callgirl arbeitet, ihren Freund und einen pensionierten Professor, der das Mädchen beruflich zu sich bestellt. Er beobachtet die fremde Stadt, ihre Lichter, ihre Gebäude, die sich im Gesicht des Mädchens während einer langen Taxifahrt durch die Autoscheibe spiegeln.
24 FRAMES (Iran/F 2017, 31.10.) Kiarostamis letzter Film. Ein Dialog zwischen seiner Arbeit als Filmemacher und seiner Arbeit als Fotograf. Vierundzwanzig Bilder – ein klassisches Gemälde und eigene Landschaftsfotografien – werden zur Grundlage eines Nachdenkens über das Davor und Danach des fotografischen Moments. (anl)
Diese Retrospektive wurde ermöglicht durch eine Förderung des Hauptstadtkulturfonds.