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In einer Zeit und einer Welt, in der sich scheinbar gesicherte Realitäten und Werte gerade aufzulösen scheinen und die Verunsicherung groß ist, stellen sich Fragen wie „Was nun? Was machen und wo stehen wir jetzt?“ immer dringlicher. Wie reagiert das Kino auf die Krisen der Gegenwart? Wie geht es mit Zäsuren persönlicher und politischer Natur um?

Unter dem Titel „What Now?“ – in Anlehnung an Joaquim Pintos bewegenden Film E AGORA? LEMBRA-ME (What Now? Remind Me), der autobiografisch vom Kampf mit einer Viruskrankheit berichtet – wirft ein Programm mit fünf zeitgenössischen portugiesischen Filmen aus den Jahren 2013–2019 den Blick auf künstlerische Auseinandersetzungen mit nachhaltigen Erschütterungen infolge von Kolonialismus, der faschistischen Salazar-Diktatur und der EU-Austeritätspolitik in Portugal. Formal und ästhetisch vielfältig erzählen die Filme von aktuellen Verwerfungen stets auch im historischen Zusammenhang. Der Fokus liegt auf Portugal, gemeint ist aber unser aller Gegenwart. (1.-5. Juli)

E AGORA? LEMBRA-ME (What Now? Remind Me, Joaquim Pinto, Portugal 2013, 1.7., Einführung: Birgit Kohler) Seit den 90er Jahren mit HIV infiziert und an Hepatitis C leidend, entschließt sich der Filmemacher Joaquim Pinto 2011 zu einer ein-jährigen Behandlung mit noch unerprobten Medikamenten, die gravierende physische und psychische Nebenwirkungen haben. Er verbringt diese schwierige Zeit, eine immense biografische Zäsur, mit seinem Mann Nuno und vielen Hunden auf dem Land, wo sie ein Wiederaufforstungsprojekt starten. Der Aufzeichnung seiner Schmerzen und seines gesundheitlichen Zustands steht die Schönheit der (allerdings bedrohten) Natur gegenüber. Der Tagebuchfilm spannt einen weiten Bogen an Reflexionen: zur Nelkenrevolution, dem Wesen von Epidemien, dem europäischen Spardiktat, Höhlen, Darwinismus, Lana Turner und Illustrationen aus der Renaissance. Auch biografische Erinnerungen fließen ein, an die Zeit als Student in der DDR, die Arbeit als Tonmeister mit Raúl Ruiz und João César Monteiround an verstorbene Wegbegleiter wie u.a. Derek Jarman und Manfred Salzgeber. Nicht zuletzt aber handelt es sich um einen ergreifenden Film über eine große Liebe.

VERÃO DANADO (Damned Summer, Pedro Cabeleira, Portugal 2017, 2.7.) Ein markanter Einschnitt in vielen Biografien ist das Ende der Jugend, die Zeit nach dem Abschluss von Schule und Ausbildung. Wie geht es weiter? Die jungen Leute in Pedro Cabeleiras Debütfilm lassen sich ziellos treiben, durch träge Nachmittage und euphorische Nächte in Lissabon. Chico kommt aus dem ländlichen Portugal in die Stadt, hat keinen Job und keine Pläne. Für einen Joint lässt er ein Bewerbungsgespräch sausen. Wie für seine ganze Clique besteht sein Alltag aus Chillen, Drogen und Partys, ein Leben zwischen Langeweile und Ekstase. Er ist Teil einer Generation ohne Perspektiven und Erwartungen, die das Erwachsenwerden hinauszögert. Dem Verzicht auf Plot Points und narrative Zuspitzung steht eine besondere akustische Dynamik gegenüber, lange Tanzszenen entfalten eine immersive Wirkung und das experimentelle Sounddesign mixt Technobeats und klassische Musik.

VITALINA VARELA (Pedro Costa, Portugal 2019, 3.7.) Vitalina Varela kommt ein paar Tage zu spät – ihr Mann, der sie und die ehemalige Kolonie Cabo Verde vor Jahrzehnten verlassen hat, um in Portugal zu arbeiten, ist gestorben, ohne dass sie ihn noch einmal gesehen hat. Obwohl sie bei ihrer Ankunft in Lissabon nicht willkommen geheißen wird, bleibt sie und sammelt in seiner armseligen Behausung in einem Viertel kapverdischer Einwanderer die Scherben seines Daseins in der Fremde auf. Sie möchte Antworten auf ihre Fragen und rekonstruiert voller Trauer und Schmerz sein Leben. Doch was der Priester über ihn erzählt, ist kein Trost. Fast ohne Worte und mit magisch schönen Bildern von großer Dunkelheit, aus der Vitalinas Gesicht kunstvoll ausgeleuchtet hervortritt wie in alten Gemälden, erzählt der gespenstische Film aus dem realen Leben seiner Laiendarstellerin, auf deren Schultern bis heute das Erbe der Kolonialzeit lastet.

COLO (Teresa Villaverde, Portugal / Frankreich 2017, 4.7.) Die Einrichtung ihrer Hochhauswohnung zeugt von besseren Zeiten – mittlerweile wurde die darin lebende dreiköpfige Mittelstandsfamilie jedoch von den Folgen der portugiesischen Wirtschaftskrise eingeholt. Der Vater hat seinen Job verloren und versucht mit einer verzweifelten Entführungsaktion, seine Demütigung zu lindern. Die Mutter arbeitet Doppelschichten und ist am Rande ihrer Kräfte. Die Teenager-Tochter Marta ist verliebt, kümmert sich um ihren Vogel und um eine Freundin ohne Halt. Auf die Erschütterungen ihres gewohnten Alltags reagiert sie mit großer Verunsicherung. Als das Geld nicht mehr reicht, um die Stromrechnung zu bezahlen, muss etwas passieren. COLO erzählt in konzentrierter Ruhe, nur spärlich akzentuiert mit leiser elegischer Musik, vom schleichenden Zerfall einer Familie. Nach der Krise werden Tochter, Mutter und Vater nicht mehr die gleichen sein.

LUZ OBSCURA (Obscure Light, Susana de Sousa Dias, Portugal 2017, 5.7.) Ein markantes Datum in der Geschichte Portugals ist die 48 Jahre währende Diktatur unter António de OliveiraSalazar. In dieser Zeit (1926 bis 1974) wurden Tausende Oppositioneller verhaftet, gefoltert und ermordet. Die Auswirkungen der Repression auf die Kinder und Familien der politischen Gefangenen untersucht Susana de Sousa Dias in LUZ OBSCURA anhand von erkennungsdienstlichen Fotografien der Geheimpolizei, die sie mit Audioaufnahmen der mittlerweile erwachsenen Kinder eines inhaftierten Kommunisten kombiniert. Da die Familie keine Fotoalben hat, werden die vermeintlichen Verbrecherfotos dabei gewissermaßen zum Familienalbum. Die stockend vorgetragenen Erinnerungen an Besuche im Gefängnis, an das Leben bei den Großeltern und an viel Schweigen zeigen, wie Staatsterror Familien zerstört und sich in Beziehungen und Erinnerungen einschreibt. (bik)

Eine Veranstaltung in Kooperation mit der Botschaft von Portugal / Camões Berlim im Rahmen der portugiesischen EU-Ratspräsidentschaft. Besonderer Dank an Ana Patrícia Severino.

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