Direkt zum Seiteninhalt springen

Filme dem Dialog anvertrauen, Bilder diversen Perspektiven ausliefern, Diskurse archivieren und lebendig halten – dieser emphatische Anspruch der Duisburger Filmwoche und des Arsenals fungierte als Impulsgeber dieses gemeinsamen Programms. Neuere Arbeiten, die bei den jüngsten Ausgaben des renommierten Festivals für Dokumentarfilm aus Deutschland, Österreich und der Schweiz gezeigt wurden, werden an drei Abenden mit älteren Beiträgen aus der 45-jährigen Geschichte des Festivals in Bezug gesetzt. Zu sehen sind Filme, die sich Menschen, Milieus und Stimmungslagen widmen, für die nur wenige oder allzu stereotype Bilder zirkulieren: Arbeiten, die sich den Umständen aussetzen und sich ihren Protagonist*innen zuwenden. In der Korrespondenz der ausgewählten Filme verdichten sich Eindrücke autobiografischer Erkundungen und vermeintlich abseitiger oder marginalisierter Lebensentwürfe und Gefühle. Dabei formuliert jede Arbeit ihre eigene Bildsprache. Die Kombination von historischen und aktuellen Filmen stiftet unerwartete Verbindungen und lässt neue Eindrücke in dem Raum entstehen, den die zeitliche Distanz zwischen den Filmen lässt. Während die Duisburger Filmwoche jedes Jahr im November einen Ort für engagierte Debatten zwischen Filmemacher*innen und Publikum schafft, begegnen sich im Rahmen von „In Rücksprache“ die Bilder selbst in Rede und Gegenrede. Wird in Duisburg das Gespräch stets mitgeschrieben und im Protokollearchiv des Festivals protokult.de festgehalten, ist die Recherche in diesem Archiv nun Ausgangspunkt neuer, filmischer Dialoge – damit sich die Bilder gegenseitig anreichern und Wege zueinander finden können, die noch nicht kartografiert sind.

Den Auftakt macht WOHNHAFT ERDGESCHOSS (D/A 2019, 20.1.) von Jan Soldat. Durch seine zugestellte Wohnung bewegt sich die drastische körperliche Präsenz des Protagonisten. Heiko empfindet derweil sein Leben als zugestellt. Seine Mutter will er lieber nicht mehr treffen, die Vergangenheit war schlecht zu ihm. „Wäre die verdammte Wende nicht gekommen, hätt’ ich noch Arbeit“ sagt er trotzig – und pinkelt nackt auf den Boden. Machen im Netz viele, gibt es Videos von. Deshalb macht auch Heiko Bilder von sich selbst. Jan Soldats Bilder von Heiko verweben sorgsam dessen Körpergeschichte mit inneren und äußeren Zeitgeschichten, mit unterdrückter Aggression und gelegentlicher Erleichterung.

Sexualität, Familiengeschichte, politisches Zeitgeschehen – DAS BLEIBT, DAS KOMMT NIE WIEDER (D 1992, 20.1.) von Herbert Schwarze webt diese Sujets in einem „Dokumentarfilm, der keiner mehr ist“ zusammen, wie er 1992 im Katalog der Filmwoche bemerkt. In dieser Arbeit wird individuelles Trauma und kollektives Gedächtnis, geschält aus 60 Jahren Filmgeschichte, in der Biografie der Mutter weniger enggeführt als assoziiert. Im Zentrum steht dabei, wie bei Jan Soldat, der Körper als Objekt sozialer Projektionen: Gedächtnisbilder zwischen Nazikitsch und Nachkriegsschuld legen sich auf den Körper einer Frau, die keine sein will. Der Rahmen ihrer biografischen Erzählung ist so von Bildern beengt wie Heikos Wohnzimmer mit Apparaten zur Bildproduktion.

In PICNIC AT HANGING ROCK (D 2021, 21.1.) geht Naama Heiman auf die Suche nach einem Sujet für ihren Film und findet überall ihren Mitbewohner Biniam. Eine Obsession. Er entzieht sich dem Bild, verschanzt sich in der gemeinsamen Wohnung hinter verschlossenen Türen. Die Nachbarn im bräsigen Köln-Bickendorf nutzen den Lockdown, um die Markisen ihrer Wintergärten zu saugen. Heiman sortiert derweil analoge Bilder vergangener Zweisamkeit und lauert im Flur auf eine Begegnung. Ein Tagebuch der Hermetik und der Asymmetrie: Die Tauben auf dem Balkon paaren sich pragmatisch, die Filmemacherin liebt auf Entzug.

Um eine nervöse Kontaktaufnahme in Tagebuchform bemüht sich Jan Peters in DEZEMBER, 1–31 (D 1998, 21.1.). 31 Filmrollen lang entsteht eine erratische Trauerarbeit, die dem verstorbenen Freund Grobi gewidmet ist und ganz materialistisch gegen das Vergessen vorgeht. Wie in Heimans Film mischt sich bitterkomische Selbstironie in den verzweifelten Umgang mit Abwesenheit. Tagebücher werden jeweils als Medien des Eigenbedarfs erfahrbar: Das ihnen Anvertraute ist für Dritte nicht immer gleich lesbar. Doch wo Heiman von sich absieht, um Sehnsucht zu formulieren, nimmt sich Jan Peters Raum zur assoziativen Selbstreflexion: Während er auf der Suche nach Zeichen und Botschaften seine alltägliche Umwelt beschwört, vermag Heiman den Eindruck ihres Mitbewohners nicht einmal dann abzuschütteln, als sie nach Tel Aviv zu ihren Eltern flüchtet.

Die letzte Paarung beginnt mit JETZT ODER MORGEN (A 2020, 22.1.) von Lisa Weber. Ihre Protagonistin Claudia singt bei bescheidenen Familienfeiern „When You Believe“ von Whitney Houston und Mariah Carey, während der niederträchtige Optimismus des Schmalzhits sie längst nicht mehr zu überzeugen vermag. Die junge Mutter ohne Schulabschluss und Job erwartet von ihrer Zukunft nur noch das Schwererwerden der Last ihrer prekären Verhältnisse. Sie streichelt ihren Sohn, an dem ihr neuer Freund ungeduldig verzweifelt, döst mit der wachenden Hand auf dem Kinderschopf, ohne danach einen Grund zu finden aufzustehen.

In ICH DENKE OFT AN HAWAII (BRD 1978, 22.1.) von Elfi Mikesch trotzen tropische Harmonien dem Habitus. Ideen und Klänge ferner Idyllen sind alles, was der Vater, ein puerto-ricanischer US-Soldat, seiner Tochter hinterlassen hat. Die 15-jährige Carmen sitzt in ihrem engen Zimmer und klagt, die Arbeit ihrer Mutter als Putzkraft sei ihr zu eintönig. Mikesch komponiert neonbunte Eimer und Handschuhe, die aus dem Wischmopp das Wasser wie aus dem Klassenbild den Paternalismus wringen. Dabei poliert sie das Dokumentarische, bis ein Stück trübe BRD-Gegenwart aus ihm aufblitzt: Während Claudia in JETZT ODER MORGEN dokumentarische Vertragspartnerin und Empfängerin aufrichtiger Empathie ist, glänzt Carmens Haar und Gesicht wie das frisch gewaschene Porzellan, das sie in einer winzigen Küche einem ästhetisierten Schaumbad enthebt. Solidarität mit ihren jungen Protagonistinnen eint die beiden Filme genauso wie das Bewusstsein sozialer und geschlechterpolitischer Härten. (as)

Eine Kooperation mit der Duisburger Filmwoche.

Gefördert durch:

  • Logo des BKM (Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien)

Arsenal on Location wird gefördert vom Hauptstadtkulturfonds