Die Arbeit eines demokratischen Bürgermeisters in einem republikanisch geführten Land, allgegenwärtige Überwachungstechnologien und Alltagsrassismus in einer Gesellschaft, die sich für aufgeklärt hält: Unknown Pleasures #12 präsentiert eine Auswahl aktueller amerikanischer Independent-Filme, in denen die gesellschaftspolitischen Spannungen der vergangenen Jahre deutlich zu spüren sind. Was dabei auffällt: Erzählt werden diese Filme aus einer dezidiert autobiografischen Perspektive. Wenn etwa Theo Anthony in seinem fulminanten Essayfilm ALL LIGHT, EVERYWHERE über Kameras, Waffen und die Polizei nachdenkt, dann filmt er auch immer wieder sich selbst und seine Kamera mit und reflektiert damit seinen Blickpunkt. Alfred Guzzetti besucht in seinem neuesten Film THE GIFTS OF TIME Freund*innen, die er seit über 50 Jahren kennt und lässt sie vor der Kamera von ihrem Leben berichten. Was denken sie über ihre aktuelle Situation? Skinner Myers spielt in seinem Debütfilm THE SLEEPING NEGRO gleich selbst die Hauptrolle und liefert einen bitterbösen Kommentar auf die Frage, ob die USA tatsächlich eine post racial society sind. In ALL ABOUT MY SISTERS, einem zutiefst erschütternden Dokument über die Auswirkungen von Chinas Ein-Kind-Politik, tritt die Regisseurin Wang Qiong dagegen als Filmemacherin und gleichzeitig immer auch als Tochter auf. ALL ABOUT MY SISTERS steht auch für eine Entwicklung des Independent-Films, nationale Grenzen bewusst zu überschreiten, was nicht zuletzt die immer prekäreren Finanzierungsmöglichkeiten widerspiegelt. Wang Qiong lebt in den USA und finanzierte ihren ausschließlich in China gedrehten Film komplett über amerikanische Institutionen. Ted Fendts OUTSIDE NOISE, der thematisch und formell an seine letzten Spielfilme anknüpft, wurde schließlich ganz außerhalb der USA produziert.
Ein besonderer Höhepunkt ist die Hommage an Joan Micklin Silver (1935–2020), deren Werk heute in Deutschland weitgehend in Vergessenheit geraten ist. 1975 erschien ihr preisgekröntes Spielfilmdebüt HESTER STREET über jüdische Emigrant*innen in New York Ende des 19. Jahrhunderts. Doch trotz dieses Erfolgs hatte sie als Regisseurin immer wieder große Mühe, Arbeit zu finden. Ende der 70er Jahre musste sie sich von einem einflussreichen Produzenten sagen lassen: „Die Produktion und der Vertrieb von Spielfilmen sind sehr teuer, da sind Regisseurinnen nur ein weiteres Problem, das wir nicht benötigen.“ Gezeigt werden drei ihrer schönsten Filme: neben HESTER STREET die Komödie BETWEEN THE LINES (1977) sowie ihr wohl bekanntestes Werk CROSSING DELANCEY (1988).
THE WORLD TO COME (Mona Fastvold, USA 2020, 1. & 12.1.) 1856 im Nordosten der USA: Das Ehepaar Abigail (Katherine Waterstone) und Dyer (Casey Affleck) führt ein hartes und eintöniges Siedlerleben. Der Tod ihrer jungen Tochter stürzt sie in eine große Krise, aus der sich kein Ausweg abzeichnet. Erst die Ankunft neuer Nachbarn führt zu etwas mehr Geselligkeit, und zwischen Abigail und Tallie (Vanessa Kirby) entwickeln sich schnell intensive Gefühle. THE WORLD TO COME schildert das mühevolle Leben der Siedler*innen aus weiblicher Perspektive. Die Beziehung zwischen den beiden Frauen ist dabei nicht nur ein Akt der Flucht vor ihrem tristen Alltag. Vielmehr erforscht Fastvold, „wie zwei Frauen schließlich einen Weg finden, ihre je eigene Subjektivität auszudrücken.” (Dominik Kamalzadeh)
THE SLEEPING NEGRO (Skinner Myers, USA 2021, 2. & 15.1.) Los Angeles, heute: Ein schwarzer junger Mann wird von seinem Chef gezwungen, Dokumente zu fälschen, ein ehemaliger Freund versucht ihn zu überzeugen, dass Schwarze in den USA nicht mehr benachteiligt sind, seine weiße Freundin möchte ihn ihren Eltern vorstellen (wobei der namenlose Protagonist nur an den Horror in Jordan Peeles Get Out denken muss), und dann taucht auch noch sein vor Wut rasender Doppelgänger auf. Skinner Myers radikales Debüt THE SLEEPING NEGRO stellt die Frage, inwieweit schwarzen Amerikaner*innen der Glaube an Fortschritt nur vorgegaukelt wird, damit sie sich schlussendlich mit ihrer eigenen Unterwerfung zufriedengeben.
THE GIFTS OF TIME (Alfred Guzzetti, USA 2019, 3. & 6.1.) Das Leben der Großeltern und deren Einwanderung in die USA, das Aufwachsen der eigenen Kinder oder historische Erkundungen anhand alter Familienfotos: Seit knapp fünf Jahrzehnten dokumentiert Alfred Guzzetti in unterschiedlichsten Formen seine Familiengeschichte. In diesen außergewöhnlichen Filmen geht es dabei auch immer um das Verstreichen der Zeit und was dabei in Vergessenheit gerät. Ganz direkt widmet er sich dieser Frage nun in THE GIFTS OF TIME. Er bittet Freund*innen, die er seit mehr als einem halben Jahrhundert kennt, von ihrem Leben zu erzählen. Wo stehen sie heute? Was denken sie über ihr Alter? Wie haben sie Schicksalsschläge verarbeitet?
DOWN WITH THE KING (Diego Ongaro, USA/F 2021, 4. & 8.1.) Mercury „Money Merc“ Maxwell (gespielt vom Rapper Freddie Gibbs) ist von der Musikbranche desillusioniert und sein Status als Celebrity macht ihm zu schaffen. Er zieht sich ins ländliche Massachusetts zurück, um dort an seinem neuen Rap-Album zu arbeiten. Doch zum Schock seiner Fans (und vor allem seines Managers) verkündet er stattdessen seinen Rückzug. Mit vielen Laiendarsteller*innen inszeniert und anhand von Episoden erzählt, die auf deren Leben basieren, ist Diego Ongaros preisgekröntes Zweitlingswerk weder Verklärung ländlicher Seligkeit noch eine billige Abrechnung mit dem US-amerikanischen Rednecktum. Stattdessen zeichnet DOWN WITH THE KING eine Bescheidenheit aus, die an das Schaffen von Kelly Reichardt erinnert.
ALL LIGHT, EVERYWHERE (Theo Anthony, USA 2021, 6. & 16.1.) Was ist die Beziehung zwischen Kameras und Schusswaffen und gibt es so etwas wie einen objektiven Blickwinkel? Ausgehend von diesen Fragen folgt Theo Anthony in seinem neuesten Essayfilm Menschen, die an der Entwicklung und Anwendung neuer Technologien arbeiten: einer Firma, die Körperkameras und Taserwaffen baut, Polizist*innen, die für diese geschult werden sowie einem Mann, der mittels Drohnen eine Live-Stadtkarte von Baltimore erstellt. „Ausgehend von der These, dass an jenem blinden Fleck, von dem der Blick ausgeht, die Macht sitzt, prescht Anthony forsch durch die Wissenschaftsgeschichte, greift nach allen Seiten aus, setzt neu zusammen – und lehrt uns das Fürchten.“ (Alexandra Seitz)
OUTSIDE NOISE (Ted Fendt, D/Südkorea/Österreich 2021, 8.1., in Anwesenheit von Ted Fendt & 18.1.) Auf der Rückreise von New York nach Wien macht Daniela (Daniela Zahlner) in Berlin bei ihrer Freundin Mia (Mia Sellmann) einen Zwischenstopp. Sie quält die Frage, was sie nun tun soll. Zudem plagen sie schlaflose Nächte. Auch Mia hat Mühe zu schlafen. Gemeinsam verbringen sie einige Tage in Berlin. Zeit vergeht. Dann besucht Mia Daniela in Wien. Das Gefühl, auf etwas zu warten, ist jedoch nicht verschwunden. Ted Fendts OUTSIDE NOISE, geschrieben zusammen mit den beiden Hauptdarstellerinnen, ist ein wunderschöner Film, der den Raum zwischen vermeintlicher Stasis und Aufbruch lässig erkundet und in dem Anspannung und Ruhe Hand in Hand gehen.
CITY HALL (Frederick Wiseman, USA 2020, 9. & 13.1.) Nachdem Frederick Wiseman in seinen letzten Filmen die Public Library in New York, die National Gallery in London und die communities in Monrovia, Indiana und Jackson Heights porträtierte, blickt er in seinem 45. Film auf die Arbeit des demokratischen Bürgermeisters von Boston, Marty Walsh. Wobei: CITY HALL ist weit mehr als ein Einblick in die städtische Verwaltung, sondern vor allem ein Porträt von Wisemans Heimatstadt Boston. Und so sehen wir Arbeiter*innen, die Straßen reparieren und Häuser bauen, wir nehmen an Gedenkveranstaltungen für Veteranen teil und begleiten die Vorbereitungen für die Feier des Red Sox-Baseballteams. Vor allem jedoch folgen wir Walsh, wie er stets den Dialog mit seinen Mitarbeiter*innen und Bürger*innen sucht. Ein hoffnungsvoller Film, in dem man dennoch die Wut Wisemans über die USA unter Trump deutlich spürt.
ALL ABOUT MY SISTERS (Wang Qiong, USA 2021, 10. & 19.1.) Was denn ihre frühesten Erinnerungen seien, fragt die Filmemacherin ihre jüngere Schwester Jin. Diese schüttelt nur frustriert den Kopf. Sie wurde in den 90er Jahren in China geboren, als dort eine strikte Ein-Kind-Politik herrschte. Da die Eltern sich einen Jungen wünschten und bereits zwei Töchter hatten (und eine Abtreibung kurz vor der Geburt fehlschlug), wurde sie ausgesetzt und wuchs schließlich bei Verwandten auf. Nun ist sie selbst Mutter und kämpft mit der Frage, warum sie als Baby verlassen wurde. Über einen Zeitraum von sieben Jahren filmte Wang Qiong ihre Familie und zeigt eindrücklich die komplexen Auswirkungen, die die Politik, Geburtenkontrolle und soziale Kontrolle auf die Körper von Frauen ausüben. Ein erschütternder Film, erzählt als epischer Akt der Heilung.
TERRA FEMME (Courtney Stephens, USA 2017–2021, 15.1., in Anwesenheit von Courtney Stephens) In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts begannen immer mehr Frauen, die Welt zu fotografieren und zu filmen. Auf solche Amateuraufnahmen stieß die Filmemacherin in Filmarchiven und anderen Kollektionen. In diesen frühen travelogues reisen Frauen nach Indien und Ecuador, filmen Urlaube oder nehmen die Kamera mit auf Arbeitsreisen. Inwieweit unterscheidet sich ihr Blick von dem der Männer? „Diese Frauen dokumentierten die Welt und dokumentierten damit auch ihren persönlichen Standpunkt, der immer noch der einer Außenseiterin war. Die Filme behaupten ein Recht auf den öffentlichen Raum als Außenseiterin.“ (Courtney Stephens) Vorgeführt wird TERRA FEMME als Live-Performance: Analog zu den historischen Aufführungen der travelogues wird die Filmemacherin den Film live im Kino einsprechen.
HESTER STREET (Joan Micklin Silver, USA 1975, 12. & 18.1.) Ende des 19. Jahrhunderts ist die Hester Street das Herz des jüdischen New York. Dort wohnt auch Yankel (Steve Yeats), der unbedingt als Amerikaner wahrgenommen werden möchte und sich nur noch Jake nennt. Doch als seine Frau Gitl (Carol Kane) und ihr gemeinsamer Sohn nach Jahren der Trennung ebenfalls in die USA einwandern, sieht sich das Ehepaar mit der Frage konfrontiert, wie stark man sich anpassen soll. Joan Micklin Silvers Debütfilm HESTER STREET ist eine grandiose Nacherzählung des jüdischen Lebens in New York und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet (darunter eine Oscar-Nominierung von Carol Kane). „HESTER STREET behandelte Themen, mit denen sich das amerikanische Kino gerade erst zu befassen begann – das Leben von Einwanderern und ethnische Identität. Kann eine Immigrantin alles erreichen, was Amerika zu bieten hat, ohne ihre Besonderheit und ihre Tradition zu opfern?“ (Eric A. Goldman)
BETWEEN THE LINES (Joan Micklin Silver, USA 1977, 5. & 14.1.) Eine kleine Truppe leidenschaftlicher Journalist*innen zeichnet für die alternative Zeitung „The Black Bay Mainline“ verantwortlich, eine Institution in der Medienlandschaft Bostons. Doch ihre Arbeit wird immer stärker durch wirtschaftliche Faktoren eingeschränkt. Joan Micklin Silvers dringend zu entdeckender zweiter Film BETWEEN THE LINES nutzt das turbulente Arbeitsleben einer Zeitungsredaktion, um einen fulminanten Ensemble-Film zu inszenieren. Mit dabei: ein Musikkritiker (Jeff Goldblum), stets pleite, aber voller Stolz, ein aufbrausender Reporter (John Heard), der mit der Fotografin (Lindsay Crouse) der Zeitung ausgeht und ein Kurzauftritt eines verrückten Performance-Künstlers.
CROSSING DELANCEY (Joan Micklin Silver, USA 1988, 7. & 14.1.) Isabelle Grossman (Amy Irving) arbeitet in einem New Yorker Buchladen und genießt den intellektuellen Austausch, den sie mit Autor*innen und Kund*innen führt. Ihre Großmutter ist jedoch wenig begeistert von diesem Milieu und engagiert kurzerhand eine jüdische Heiratsvermittlerin, die ihre Enkelin mit dem Gurkenhändler Sam (Peter Riegert) verkuppeln soll. Eine Entscheidung, die Isabelle in höchstem Maße irritiert. Als eines der wenigen Werke in Silvers Schaffen, das durch ein Hollywood-Studio finanziert wurde (auf Vermittlung von Amy Irvings damaligem Ehemann, Steven Spielberg), war CROSSING DELANCEY ihr größter Publikumserfolg und gilt heute als ein Klassiker des US-amerikanischen Kinos der 80er Jahre. (hb)
Das Programm wurde von Hannes Brühwiler kuratiert. Für die Unterstützung bedanken wir uns bei der Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika und bei den Solothurner Filmtagen.