Jay Leyda im Staatlichen Filmarchiv der DDR
„Only gradually did I realize how against ‚unanimity‘ China had made me.“ (Jay Leyda, Dianying, S. 305)
Als interner Anlass für Leydas Einladung in die DDR galt zunächst seine Mitarbeit an der Robert Flaherty Retrospektive auf der Leipziger Dokumentarfilmwoche 1964. Es war jedoch von Anfang an auch die Rede von einer längeren Anstellung im Staatlichen Filmarchiv (SFA) und einer Lehrtätigkeit an der Staatlichen Filmhochschule in Babelsberg (zu letzterer kam es jedoch nur kurzzeitig). Das SFA versprach sich von Leydas Anwesenheit internationales Prestige – in den sozialistischen Ländern galten er und Si-lan als Vertreter eines „anderen Amerika“ und als politische Exilanten –, aber vor allem auch fachliche Unterstützung bei der Aktivierung und Evaluierung der immensen Filmsammlung des SFA, die seinerzeit als die drittgrößte der Welt galt.
Das Staatliche Filmarchiv der DDR war 1954 gegründet worden, als die Sowjetunion einen großen Teil der nach dem Krieg konfiszierten Reichsfilmarchiv-Bestände an die DDR restituierte. Die ersten zehn Jahre konzentrierte sich die Arbeit des Archivs auf Erfassung und Katalogisierung der Bestände. Ab 1964 begann das SFA jedoch mehr und mehr, mit diesen Beständen zu arbeiten und auch gegenüber anderen Archiven innerhalb der FIAF (Fédération internationale des archives du film) als gut ausgestatteter und fachlich kompetenter Partner aufzutreten. Die in dieser Zeit beginnenden konstruktiven Beziehungen zu westlichen FIAF-Mitgliedern wie dem British Film Institute, der Cinémathèque québécoise, der Library of Congress und vor allem dem Museum of Modern Art profitierten maßgeblich von Leydas Präsenz in Ost-Berlin und seiner kompetenten Vermittlungsarbeit.
Leyda hatte einen gut dotierten Werkvertrag mit dem SFA, der ihm auch große Freiheiten für eigene Recherchen bot, und es stand ihm und seiner Frau über die gesamte Dauer ihres Aufenthalts in Berlin eine Dolmetscherin zur Seite, zu der beide auch eine freundschaftliche Beziehung aufbauten. In Berlin setzte Leyda die 1963 in Peking begonnene Arbeit an Dianying fort, betreute das Erscheinen der erweiterten deutschen Ausgabe seines Buchs Films Beget Films im Henschel-Verlag (Filme aus Filmen, 1967) und lektorierte die Autobiografie seines langjährigen Freundes Joris Ivens, The Camera and I, die 1969 im DDR-Verlag Seven Seas erstveröffentlicht wurde.
Von Berlin aus unternahm Leyda auch mehrere Recherchereisen in andere europäische FIAF-Archive und gehörte einige Male der SFA-Delegation auf den jährlichen FIAF-Kongressen an. Er war Federführender des vom SFA angestoßenen FIAF-Projekts „Embryo“, einer systematischen Katalogisierung der Bestände an kurzen fiktionalen Filmen aus der Stummfilmzeit, die in den Mitgliedsarchiven lagerten. Am engsten arbeitete Leyda am SFA mit Wolfgang Klaue zusammen, der zunächst noch die Leitung der wissenschaftlichen Abteilung des SFA innehatte, 1969 dann Direktor der Institution (und in den 1980er Jahren auch FIAF-Präsident) wurde.
Leyda besuchte in diesen Jahren auch Veranstaltungen der Freunde der deutschen Kinemathek in der West-Berliner Akademie der Künste (aus denen später die Arbeit des Arsenal hervorging) und zeigte hier im März 1968 seinen Studienfilm zu Sergej Eisensteins Mexiko-Film, EISENSTEIN’S MEXICAN FILM – EPISODES FOR STUDY. In West-Berlin wohnte er des Öfteren bei den Arsenal-Gründern Erika und Ulrich Gregor und nutzte ihre Adresse gelegentlich auch als Postadresse für Sendungen, die nicht ohne weiteres den DDR-Zoll passiert hätten. In Berlin begann auch Leydas Freundschaft mit Naum Kleiman, dem langjährigen Leiter des Sergej-Eisenstein-Kabinetts, der zu Leydas wichtigster Vertrauensperson in der sowjetischen Filmlandschaft wurde, als sich dort der politische Wind drehte und Leydas transnationale Perspektive zu einer dissidenten Position wurde.
Im Herbst 1969 ging Jay Leyda auf Einladung von Standish Lawder zunächst für ein befristetes Fellowship an die Yale University und trat dann von dort eine Lehrstelle am York College in Toronto an. In die DDR kehrte er nicht mehr zurück, beriet das Staatliche Filmarchiv aber auch in den Folgejahren noch bei Filmrecherchen, insbesondere für die Retrospektive „American Social Documentary“, die das SFA 1981 für die Leipziger Dokumentarfilmwoche zusammenstellte und in der gerade die politische Filmarbeit der 30er Jahre im Mittelpunkt stand, an der Leyda so aktiv beteiligt gewesen war.
1973 wurde Leyda auf Initiative von Annette Michelson, die zu einer US-Generation gehörte, für die er „zu einer entrückten und mythischen Figur“ geworden war (so Michelson in ihrem späteren Nachruf auf Jay Leyda), als Professor für Film Studies an die New York University berufen, womit sich für ihn und Si-Lan Chen der lange Kreis der Emigration schloss.