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von Tobias Hering

„People were always telling me I wasnt qualified to do something, but I just pursued my interests wherever they would take me.

In Detroit geboren und in Dayton (Ohio) aufgewachsen zog Jay Leyda 1930 zwanzigjährig nach New York City, um als Assistent des Fotografen und Filmemachers Ralph Steiner praktische Erfahrungen mit experimenteller Kameraarbeit zu machen. „My wish to do creative work in kino precedes by many years my knowledge of or participation in the American working-class movement“, schrieb Leyda 1933 in seinem Bewerbungsbrief an die sowjetische Filmgesellschaft Meschrabpom und führte seine verspätete Politisierung auf den kleinbürgerlichen Hintergrund in Ohio zurück. Umso prägender wurde ihm das Umfeld aus Fotograf*innen und Filmemacher*innen, in dem er seine ersten New Yorker Jahre erlebte – Ralph Steiner, Walker Evans, Paul Strand, Sidney Meyers, Irving Lerner, Tom Brandon, Willard van Dyke, Leo Hurwitz u.a., die mit den technischen und künstlerischen Möglichkeiten von Film und Fotografie experimentierten und diese Arbeit als eine politische Praxis verstanden. Unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise schlossen sie sich 1931 zur „Workers Film and Photo League“ (WFPL) zusammen und stellten ihre Arbeit in den Dienst der „ausgebeuteten Klassen“.

Nachdem er im Umfeld der WFPL seinen ersten Film fertig gestellt hatte (A BRONX MORNING, 1931), wurde Leyda als Student an der Moskauer Filmhochschule VGIK (damals noch GIK) in der Klasse von Sergej Eisenstein angenommen. Drei Jahre erlebte er eine für das sowjetische Kino (und für ihn selbst) prägende Umbruchzeit aus nächster Nähe, arbeitete mit Dsiga Wertow und Joris Ivens sowie im Umfeld von Eisenstein in einer für diesen kritischen Periode. Als die Dreharbeiten zu Eisensteins später abgebrochenen Film BESCHIN LUG (Beschinwiese, 1935) beginnen sollten, sah Leyda die Chance, der Desillusion in der „Fabrik“ Meschrabpom zu entgehen und bewarb sich bei Eisenstein als Set-Fotograf. „Ich würde es nicht wagen, Sie um eine Stelle als Praktikant oder Assistent in Ihrer Gruppe zu bitten, da meine Vorerfahrungen für diese Aufgaben nicht besonders nützlich wären und Ihre besten Studenten an der GIK es verdienen, die Praktikumsplätze zu bekommen. Was Fotografie betrifft, so weiß ich, dass ich den letzten Jahren gute Fotos gemacht habe, und wenn mein Job sein soll, Fotos zu machen, so würde mich diese Disziplin herauskatapultieren aus diesen eineinhalb Jahren ängstlicher Bescheidenheit, und ich würde Ihnen so gute Standfotos liefern wie jeder beliebige Potilikha-Fotograf – oder bessere.“ (Brief Jay Leyda an Sergej M. Eisenstein, 23.02.1935, Jay and Si-lan Chen Leyda Papers, New York University) Leyda bekam den Job und BESCHIN LUG wurde für ihn zu einem Schlüsselerlebnis, über das er später vielfach publizierte und das ihm symptomatisch war für die Krise des sowjetischen Filmschaffens unter Stalin.

Vermutlich auf Anraten Eisensteins, der die bevorstehenden Schauprozesse gegen Kulturschaffende kommen sah, folgte Leyda 1936 einer Einladung der Filmkuratorin Iris Barry, ihr als Assistant Curator beim Aufbau einer Filmsammlung am Museum of Modern Art zu helfen. „Returned to New York via Berlin, Paris, and London, acquiring films in each city“, heißt es in einer tabellarischen Biografie Leydas in einer ihm gewidmeten Ausgabe der Zeitschrift October (No. 11, Winter 1979). Im Gepäck hatte Leyda auf dieser Reise auch eine Kopie von Eisensteins PANZERKREUZER POTEMKIN, die dieser dem MoMA überließ.

Neben der Arbeit für das Museum of Modern Art, die ihm einen bescheidenen Lebensunterhalt sicherte, brachte Leyda in diesen Jahren das in Moskau Erlernte als Editor und Co-Regisseur in zahlreiche politische Filmprojekte ein, vor allem als Mitglied des Filmkollektivs Frontier Films, aber auch in der gewerkschaftlichen Filmarbeit und anderen nicht-kommerziellen Filmprojekten mit sozialpolitischen Anliegen.

Kosmopolit / Exilant: Hollywood ... Paris ... Peking ... Ost-Berlin

Für den Filmhistoriker Jay Leyda war die Filmgeschichte ein dezentraler Prozess, der viele Autor*innen hatte und einer nationalistischen Perspektive unverständlich bleiben musste. Wechselseitige Beeinflussungen interessierten ihn viel mehr als die Behauptung autochthoner Schöpfungen, und in seinen Büchern und Artikeln wird Filmgeschichte als eine von Zufällen, Hindernissen und glücklichen Fügungen begleitete Kollektiverfahrung erkennbar, zu der Erfinder*innen, Handwerker*innen, Genies und Hasardeur*innen gleichermaßen beigetragen haben.

Spiegelt Leydas kosmopolitische Biografie einerseits seine transnationalen Forschungsinteressen wider und auch seine Bereitschaft, dafür Grenzen zu überwinden, so war sein Lebensweg andererseits auch eine Folge der beruflichen Repressalien, die ihm sein sozialpolitisches Engagement und seine „sowjetische“ Biografie in den USA einbrachten und die für ihn und seine Frau, die sino-karibische Tänzerin Si-lan Chen, schließlich zu einem zwölfjährigen Exil führten. Nach einer gezielten Diffamierungskampagne gegen Leyda und einige andere MoMA-Mitarbeiter*innen mit einer „linken“ Biografie fühlte sich Iris Barry gezwungen, Leyda 1940 zu kündigen. Der Bruch führte u.a. dazu, dass Leyda die Arbeit an seinem Buch zum sowjetischen Kino, mit der er bereits 1937 unter der Ägide des MoMA begonnen hatte, vorerst einstellte. Das Buch erschien schließlich erst 1960.

1942 erschien Leydas erste Eisenstein-Übersetzung, die Aufsatzsammlung The Film Sense. Um diese Zeit ging Leyda zeitweise nach Hollywood, arbeitete als Berater bei Warner Brothers und wirkte im Kontext des amerikanischen Kriegseintritts an mehreren pro-sowjetischen Filmproduktionen mit, darunter MISSION TO MOSCOW von Michael Curtiz’ und SEEDS OF FREEDOM, eine mit einer neuen Rahmenhandlung versehene Aktualisierung von PANZERKREUZER POTEMKIN unter der Regie von Hanuš Burger. Leyda wurde an der Westküste aber auch zum Mittler zwischen der europäischen Vorkriegsavantgarde (die sich hier nach und nach in der Emigration einfand), dem progressiven amerikanischen Dokumentarfilm der Depression Years und der jungen amerikanischen Experimentalfilmszene.

1943–44 leistete Leyda seinen Militärdienst in Fort Knox, Kentucky, ab, wurde wegen einer Lungenentzündung jedoch frühzeitig entlassen und begann mit Recherchen zum Komponisten Modest Petrowitsch Mussorgsky, aus denen The Musorgsky Reader (1947) wurde. Erneute Denunziationen gegen ihn als „sowjetischer Kulturagent“ und die nun beginnenden Schauprozesse gegen mutmaßliche „Kommunisten“ in den Hollywood-Studios, die auch ihm Nahestehende trafen, werden dazu beigetragen haben, dass Leyda ab 1945 für mehrere Jahre das Metier wechselte und sich vorwiegend mit literaturhistorischen Forschungen beschäftigte. Es entstanden zwei in Form und Inhalt einzigartige literarische Biografien (The Melville Log, 1951, über Herman Melville, und The Years and Hours of Emily Dickinson, erschienen erst 1960), in die jahrelange Archivrecherchen eingingen und die teils durch ein Guggenheim-Stipendium ermöglicht wurden. 1952 schrieb Leyda das Libretto zu Walter Aschaffenburgs Oper Bartleby, basierend auf der gleichnamigen Erzählung von Herman Melville.

1953, fünf Jahre nach Sergej Eisensteins Tod, bat Leyda das MoMA in New York, ihn Filmmaterial sichten und katalogisieren zu lassen, das Eisenstein 1931 in Mexiko gedreht hatte, aus dem er aber nach einem Zerwürfnis mit dem Financier Upton Sinclair nie einen Film machen konnte. Vier Jahre später hatte Leyda knapp vier Stunden des Materials zu einem zweiteiligen „Studienfilm“ zusammengestellt, in dem er das von Kameramann Eduard Tissé gedrehte Material unter Verzicht auf ein narratives Arrangement wie zur Begutachtung auslegte.

Eine Einladung an die Cinémathèque française bewog Jay Leyda und Si-lan Chen 1957, nach Paris zu gehen, wo Leyda zwar die Fertigstellung des Kino-Buchs ermöglicht wurde, es wegen Unstimmigkeiten mit Henri Langlois jedoch zu keinem dauerhaften Engagement kam. Lotte Eisner, die die Cinémathèque mit Henri Langlois leitete, erinnert sich in ihren Memoiren daran, dass Langlois sich zunehmend von Spionen umgeben glaubte und auch Leyda für einen hielt. „Vielleicht weil er zu Amerika, Russland, Ost-Deutschland und China Beziehungen hatte, der gute Mann.“ (Lotte Eisner, Ich hatte einst ein schönes Vaterland, S. 255)

Eine Einladung an Si-lan Chen, in Peking an einer neu gegründeten Ballettschule zu arbeiten, führte das Paar 1959 nach China, wo Leyda eine Stelle als Berater am Staatlichen Filmarchiv erhielt. Seine Arbeit im Archiv und seine zumindest anfänglichen Kontakte zu Filmjournalisten und Produktionsstrukturen machten ihn erneut zum Zeugen einer von künstlerischen und politischen Konflikten geprägten Auf- und Umbruchphase einer nationalen Kinematografie, von der er einige Jahre später in Dianying – Electric Shadows: An Account of Films and the Film Audience in China (1972) Zeugnis ablegte. Nach fünf Jahren intensiver, aber auch zunehmend von Hindernissen geprägter Forschungen in Peking ermöglichte 1964 eine Einladung des Kulturministeriums der DDR eine Übersiedelung nach Ost-Berlin. Von Juni 1964 bis Mitte 1969 lebten Jay und Si-lan Chen Leyda in einer Neubauwohnung im Hans-Loch-Viertel in Friedrichsfelde, einer der ersten Plattenbausiedlungen der DDR.

Jay Leyda im Staatlichen Filmarchiv der DDR

„Only gradually did I realize how against ‚unanimity‘ China had made me.“ (Jay Leyda, Dianying, S. 305)

Als interner Anlass für Leydas Einladung in die DDR galt zunächst seine Mitarbeit an der Robert Flaherty Retrospektive auf der Leipziger Dokumentarfilmwoche 1964. Es war jedoch von Anfang an auch die Rede von einer längeren Anstellung im Staatlichen Filmarchiv (SFA) und einer Lehrtätigkeit an der Staatlichen Filmhochschule in Babelsberg (zu letzterer kam es jedoch nur kurzzeitig). Das SFA versprach sich von Leydas Anwesenheit internationales Prestige – in den sozialistischen Ländern galten er und Si-lan als Vertreter eines „anderen Amerika“ und als politische Exilanten –, aber vor allem auch fachliche Unterstützung bei der Aktivierung und Evaluierung der immensen Filmsammlung des SFA, die seinerzeit als die drittgrößte der Welt galt.

Das Staatliche Filmarchiv der DDR war 1954 gegründet worden, als die Sowjetunion einen großen Teil der nach dem Krieg konfiszierten Reichsfilmarchiv-Bestände an die DDR restituierte. Die ersten zehn Jahre konzentrierte sich die Arbeit des Archivs auf Erfassung und Katalogisierung der Bestände. Ab 1964 begann das SFA jedoch mehr und mehr, mit diesen Beständen zu arbeiten und auch gegenüber anderen Archiven innerhalb der FIAF (Fédération internationale des archives du film) als gut ausgestatteter und fachlich kompetenter Partner aufzutreten. Die in dieser Zeit beginnenden konstruktiven Beziehungen zu westlichen FIAF-Mitgliedern wie dem British Film Institute, der Cinémathèque québécoise, der Library of Congress und vor allem dem Museum of Modern Art profitierten maßgeblich von Leydas Präsenz in Ost-Berlin und seiner kompetenten Vermittlungsarbeit.

Leyda hatte einen gut dotierten Werkvertrag mit dem SFA, der ihm auch große Freiheiten für eigene Recherchen bot, und es stand ihm und seiner Frau über die gesamte Dauer ihres Aufenthalts in Berlin eine Dolmetscherin zur Seite, zu der beide auch eine freundschaftliche Beziehung aufbauten. In Berlin setzte Leyda die 1963 in Peking begonnene Arbeit an Dianying fort, betreute das Erscheinen der erweiterten deutschen Ausgabe seines Buchs Films Beget Films im Henschel-Verlag (Filme aus Filmen, 1967) und lektorierte die Autobiografie seines langjährigen Freundes Joris Ivens, The Camera and I, die 1969 im DDR-Verlag Seven Seas erstveröffentlicht wurde.

Von Berlin aus unternahm Leyda auch mehrere Recherchereisen in andere europäische FIAF-Archive und gehörte einige Male der SFA-Delegation auf den jährlichen FIAF-Kongressen an. Er war Federführender des vom SFA angestoßenen FIAF-Projekts „Embryo“, einer systematischen Katalogisierung der Bestände an kurzen fiktionalen Filmen aus der Stummfilmzeit, die in den Mitgliedsarchiven lagerten. Am engsten arbeitete Leyda am SFA mit Wolfgang Klaue zusammen, der zunächst noch die Leitung der wissenschaftlichen Abteilung des SFA innehatte, 1969 dann Direktor der Institution (und in den 1980er Jahren auch FIAF-Präsident) wurde.

Leyda besuchte in diesen Jahren auch Veranstaltungen der Freunde der deutschen Kinemathek in der West-Berliner Akademie der Künste (aus denen später die Arbeit des Arsenal hervorging) und zeigte hier im März 1968 seinen Studienfilm zu Sergej Eisensteins Mexiko-Film, EISENSTEIN’S MEXICAN FILM – EPISODES FOR STUDY. In West-Berlin wohnte er des Öfteren bei den Arsenal-Gründern Erika und Ulrich Gregor und nutzte ihre Adresse gelegentlich auch als Postadresse für Sendungen, die nicht ohne weiteres den DDR-Zoll passiert hätten. In Berlin begann auch Leydas Freundschaft mit Naum Kleiman, dem langjährigen Leiter des Sergej-Eisenstein-Kabinetts, der zu Leydas wichtigster Vertrauensperson in der sowjetischen Filmlandschaft wurde, als sich dort der politische Wind drehte und Leydas transnationale Perspektive zu einer dissidenten Position wurde.

Im Herbst 1969 ging Jay Leyda auf Einladung von Standish Lawder zunächst für ein befristetes Fellowship an die Yale University und trat dann von dort eine Lehrstelle am York College in Toronto an. In die DDR kehrte er nicht mehr zurück, beriet das Staatliche Filmarchiv aber auch in den Folgejahren noch bei Filmrecherchen, insbesondere für die Retrospektive „American Social Documentary“, die das SFA 1981 für die Leipziger Dokumentarfilmwoche zusammenstellte und in der gerade die politische Filmarbeit der 30er Jahre im Mittelpunkt stand, an der Leyda so aktiv beteiligt gewesen war.

1973 wurde Leyda auf Initiative von Annette Michelson, die zu einer US-Generation gehörte, für die er „zu einer entrückten und mythischen Figur“ geworden war (so Michelson in ihrem späteren Nachruf auf Jay Leyda), als Professor für Film Studies an die New York University berufen, womit sich für ihn und Si-Lan Chen der lange Kreis der Emigration schloss.

„Film Studies“

Als Lehrer und Vermittler wurde Leyda in seinem letzten Lebensabschnitt zum Mentor einer neuen Generation von Filmwissenschaftler*innen, die ihre Disziplin zu einer kritisch-historischen Gesellschaftswissenschaft entwickelten. Er gilt heute als einer der Begründer der modernen „Film Studies“ als historisch orientiertes akademisches Fach. Ein später Forschungsschwerpunkt Leydas war das amerikanische Filmschaffen der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts, insbesondere das mit rund 400 Kurzfilmen fast unüberschaubare und lange Zeit vergessene Frühwerk von D.W. Griffith. Eines seiner letzten kuratorischen Projekte war die Ausstellung „Before Hollywood: Turn-of-the-Century Films from American Archives“, die er 1986 gemeinsam mit seinem Schüler Charles Musser für die American Federation of the Arts zusammenstellte.

Jay Leyda starb am 15. Februar 1988, drei Tage nach seinem 78. Geburtstag in New York City. Zwei Wochen zuvor war eine von Elena Pinto Simon und David Stirk kuratierte Ausstellung zu Leydas Werk, mit einem Fokus auf seinen frühen Fotografien, an der New York University eröffnet worden.

Si-lan Chen überlebte Jay Leyda um acht Jahre.

Die wichtigsten Dokument-Quellen für die hier zusammen getragene biografische Skizze waren Jay Leydas und Si-lan Chens Papier-Nachlass an der New York University sowie ein recht umfangreicher Aktenbestand zu Leydas Arbeit in der DDR im Bundesarchiv unter der Leitsignatur DR 140 (Staatliches Filmarchiv der DDR). Leydas Bücher und Artikel sowie Dokumente mit Bezug zu ihm in verschiedenen anderen Archiven und Personennachlässen waren zusätzliche Informationsquellen. Darüber hinaus hatte ich Gelegenheit, mit Zeitzeug*innen und Wegbegleiter*innen Leydas zu sprechen, die mir Aufgeschlossenheit und Vertrauen schenkten: Erika Gregor, Ulrich Gregor, Tom Gunning, Wolfgang Klaue (1935–2024), Naum Kleiman, Charles Musser, Elena Pinto Simon und Harald Stadler.

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