Der japanische Künstler und Filmemacher Takahiko Iimura, der am 31. Juli 2022 im Alter von 85 Jahren verstarb, war eine führende Figur im japanischen Experimentalfilm und in der Medienkunst. In der japanischen Film- und Mediengeschichte ist sein Rang als Pionier des Experimentalfilms, der Videokunst, des Expanded Cinema und der Film- und Videoinstallation unbestritten. Eine Facette, die jedoch oft übersehen wird, wenn über Iimuras Leben geschrieben wird, ist sein Entdeckergeist jenseits der verschiedenen Medien, in denen er arbeitete. Iimura entdeckte auch die Welt und war zeitlebens ein Reisender.
Besonders in der Zeit seiner Jugend von Mitte der 1960er- bis Mitte der 1970er-Jahre zog Iimura mit Filmkopien seiner eigenen Werke und denen seiner Mitstreiter*innen unter dem Arm von Land zu Land. Oft wurde er dabei von seiner Frau Akiko begleitet, die selbst Autorin, Übersetzerin und Künstlerin ist. Die meiste Zeit seines Lebens lebte Iimura in Tokio und New York und seine Beiträge zur US-amerikanischen Avantgarde sind weithin anerkannt. Arbeiten wie FILMMAKERS (1966–69), NEW YORK SCENE (1966) und SUMMER HAPPENINGS U.S.A. (1967–68) zeigen seinen Durst nach neuen Erfahrungen und Begegnungen sowie seine Fähigkeit, diese Eindrücke zu verinnerlichen und in seine künstlerische Praxis einfließen zu lassen. Anders gesagt: Iimura reiste nicht nur, um seine Arbeiten zu zeigen, sondern auch, um sich inspirieren zu lassen.
„Egal, wo man hinreist, es gibt immer das Hier und Jetzt […] Egal wohin man geht – die Leinwand ist immer weiß.“1Takahiko Iimura: „Paris – Tokyo eiga nikki“ (Paris-Tokio Filmtagebuch), Tokio: Seiunsha, 1985, S. 92. Takahiko Iimura
New York blieb Zeit seines Lebens Iimuras zweite Heimat, doch dieser Text befasst sich mit seinen Reisen durch und Aufenthalten in Europa, mit einem besonderen Fokus auf seine Zeit in Berlin2Iimura erwähnt an verschiedenen Stellen auch eine Lehrtätigkeit als Gastdozent an einer Schule, die er „Schiller College“ nennt. Was er unterrichtete und um welche Institution genau es sich handelte, konnte nicht verifiziert werden. Die Schiller International University existierte bereits zu dieser Zeit, allerdings befindet sie sich in Heidelberg im damaligen Westdeutschland. Eine regelmäßige Lehrtätigkeit bei gleichzeitigem Wohnsitz in Westberlin erscheint unwahrscheinlich. zwischen 1973 und 1974, als er als Stipendiat des Berliner Künstler*innenprogramms des DAAD in der Stadt war.3Während seines Aufenthalts im DAAD Künstler*innenprogramm im Jahr 1973 stellte Iimura in den folgenden Institutionen in Deutschland aus: Im März im Amerika Haus in Berlin, wo er seine Filme als Teil einer Gruppenpräsentation zeigte; im April im Kino Arsenal in Berlin, wo er an fünf Abenden Filme und Videos unter dem Titel „Avantgarde aus Japan“ zeigte; im Mai bei XScreen in Köln mit der Solovorführung „Neue Filme von Taka Iimura“; im Juni im Abaton-Kino in Hamburg als Teil der „Hamburger Filmschau 1973“; im August in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus in München mit der Solovorführung „Taka Iimura, Filme + Video Tapes“; im September in der Akademie der Künste in Berlin in der Gruppenausstellung „Aktionen der Avantgarde“; im November in der Galerie Paramedia in Berlin in der Einzelausstellung „Film On Paper“ sowie ein weiteres Mal im Kino Arsenal im Rahmen des Programms „Filme von Taka Iimura“. Seiner Zeit in Berlin ging eine sechsmonatige Präsentationstour voraus, die ihn bereits 1969 nach Düsseldorf, Oberhausen, Köln, Kassel, München, Frankfurt und Berlin gebracht hatte und die er als so positive Erfahrung verbuchte, dass er einige Jahre später für einen längeren Zeitraum nach Deutschland zurückkehrte.4Iimura zeigt seine Filme 1969 im Rahmen von „Experiment“ in der Kunsthalle Düsseldorf, auf den Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen (26. März), bei X-Screen in Köln (10. April), bei den Freunden Der Deutschen Kinemathek in Berlin (20./21. Mai), an der Hochschule für Bildende Künste Kassel (23. Mai), im Augusta-Kino in München (30./31. Mai) und auf dem Filmfestival Experimenta ‘69 im Cantate-Saal in Frankfurt (4. Juni). Mit Berlin als Basis war Iimura in der Lage, an einer Vielzahl von Ausstellungen und Filmvorführungen europaweit teilzunehmen. 1974 zog er schließlich nach Paris um, wo er ein weiteres Jahr lebte, bevor er nach Tokio zurückkehrte.5Während seiner Zeit im Künstler*innenprogramm des DAAD zeigte Iimura seine Arbeiten in folgenden Institutionen außerhalb Deutschlands: Musée du cinéma (Brüssel), Palais Thurn und Taxis (Bregenz, Österreich, Juli 1973), Theater am Landhausplatz (Innsbruck, Österreich, Juli 1973), The National Film Theatre (London, September 1973, im Rahmen des Independent Avantgarde Film Festival) und Milkweg (Amsterdam, November 1973). Zwar war sein Aufenthalt in Berlin nur von kurzer Dauer, dennoch, so meine These, formte diese Zeit seine Video- und Filmpraxis in einem Moment des Übergangs in seiner Karriere.
Film auf Papier – Iimuras Storyboards
Iimuras Praxis wurde vom lokalen Kontext und den Situationen, in denen er sich in Europa – 1973–74 in Berlin und 1974 in Paris – wiederfand, auf mehrere Weisen beeinflusst. Obwohl er seine Arbeiten in dieser Zeit sehr gerne auf Film gedreht hätte, war sein Zugang zu Filmequipment sehr beschränkt und er musste feststellen, dass Filmmaterial in Europa deutlich teurer war als in den USA oder Japan. In einem Briefwechsel mit dem Berliner Künstler*innenprogramm aus dem Jahr 1971 wurde Iimuras Antrag auf ein Stipendium zunächst mit der Begründung abgelehnt, dass keine technischen Einrichtungen für die Filmproduktion zur Verfügung stünden. Iimura erwiderte, dass er seine eigene Ausrüstung mitbringen könne und dass sich seine Praxis seit jeher in kleinem Maßstab bewege.6Dem Arsenal – Institut für Film und Videokunst lagen Archivmaterialien des Berliner Künstler*innenprogramms vor, in die ich für diesen Text Einsicht nehmen konnte. Schlussendlich verlegte er sich auf das Zeichnen von „Storyboards“ – Kompositionen schwarzer und weißer Kader, die er auf einem speziellen japanischen Papier anfertigte, das normalerweise für handgeschriebene Manuskripte verwendet wird und auf dem kleine Rechtecke für jeden einzelnen japanischen Buchstaben vorgedruckt sind. Da das Design den Kadern eines Filmstreifens ähnelte, fand Iimura heraus, dass es sich für die Erarbeitung von Konzepten mit bescheidenen Mitteln eignete. Mit dem in Berlin ansässigen Verlag Edition Hundertmark produzierte Iimura eine limitierte Auflage eines 13-seitigen Film-Storyboards unter dem Titel „1 to 100“ (1973). Die Videopartitur für SELF IDENTITY wurde als Teil der „10 Year Box“ (1973) veröffentlicht, einer Publikation die anlässlich des 10-jährigen Bestehens des Verlags herausgebracht wurde. „1 to 100“ wurde im selben Jahr in seiner Einzelausstellung „Film on Paper“ in der Galerie Paramedia in Berlin gezeigt. Iimura erhielt in Europa mehr Einladungen für Präsentationen seiner Videos als seiner Filme, da Videoarbeiten in Europa im Vergleich zu den USA noch eine Rarität darstellten. Daher gab er zeitweise die analoge Filmproduktion auf und widmete sich Experimenten mit Filminstallationen, für die er vornehmlich Schwarz- und Klarfilm benutzte, sowie Videoperformances und Installationen, bei denen hauptsächlich die mit dem Medium mögliche Live-Übertragung zum Einsatz kam.