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Episode 7: Handmade Films
12.02. 20:00 Arsenal 2 (freier Eintritt)
Der experimentelle Dokumentarfilm All Fall Down nimmt ein im 19. Jahrhundert errichtetes Farmhaus in Ontario zum Ausgangspunkt und stellt die Frage, was dort vorher war. Der Film verbindet die Leben zweier Figuren, einer historischen (Nahneebahweequa: eine indigene Frau des 19. Jahrhunderts, Aktivistin im Kampf um die Landrechte der indigenen Bevölkerung) und einer zeitgenössischen (der leibliche Vater der Stieftochter des Filmemachers) in einer komplexen 200 Jahre umfassenden zeitlichen Struktur. Der Film nähert sich den Charakteren anhand verschiedener Archivmaterialien. In diesen Materialien – Tagebüchern, Landschaftsbildern, Fotos, Geschichtsfilmen, Gedichten, auf Anrufbeantworter gesprochenen Nachrichten, Landkarten, historischen Re-Inszenierungen, Liedern - manifestiert sich die Politik der Landverteilung ebenso wie die Komplexität von Zeit. Strukturiert wird der Film durch Hoffmans außergewöhnliche Landschaftsaufnahmen Ontarios. Sie lassen das komplexe Zeitgewebe erstrahlen und machen es zu einer Meditation über Kindheit, Eigentum, Kolonialismus, Ökologie und Liebe.
"Philip Hoffman gilt seit langem als Kanadas herausragendster Tagebuchfilmemacher. Seit mehr als zwanzig Jahren filtert er Geschichte mittels persönlicher Fiktionen und nutzt das Material seines eigenen Lebens zur Dekonstruktion von Griersons dokumentarischem Dogma. Als Künstler, der direkt mit dem Filmmaterial arbeitet, gilt Hoffmans Aufmerksamkeit dem Prozess des Sehens. Seine Arbeiten rücken das Bild und seine Herstellung, sowie die Schaffung von Perspektive in den Vordergrund. Hoffmans Filme und ihre Arbeit mit Erinnerung wirken bezwingend und verstörend; er entstaubt das Familienarchiv und untersucht, wie Entfremdung wiederum Faszination für die vertraute Umgebung des Zuhause auslöst.
Die Sterblichkeit ist das unsichtbare Gravitationszentrum von Philip Hoffmans Werk – in ihm scheint ein Verlust auf, der Hoffman an die äußeren und inneren Grenzen der Trauer führt. Anhand der wiederholt auftauchenden Figur des Todes – sei es in Form eines Jungen, der in Somewhere Between an einer mexikanischen Landstraße liegt, eines sterbenden Elefant im Zoo von Rotterdam in ?O,Zoo!, oder als das Vermächtnis von Wahnsinn und Tod seines Onkels in passing through/torn formations – nähert sich Hoffman den Grenzen der Repräsentation und der ethischen Verantwortung von Wahrnehmung und Abbildung."
(Karyn Sandlos, Images Festival, Toronto, 2001)
"Die Filme Philip Hoffmans haben das Genre des Reiseberichts neu belebt, in dem sich lange Zeit ausschließlich Tourismusbeamte tummelten, deren Ziel es war, Landschaft in Kapital umzuwandeln. Hoffmans Arbeiten sind für ein an Starkino gewöhntes Publikum oftmals zu intensiv gefühlt, zu tief in Erinnerungsprozessen verstrickt, zu deutlich damit beschäftigt, die kanadische Dokumentarfilm-Tradition neu zu denken. Die Stationen seiner filmischen Reiseberichte sind mannigfaltig: ein Hin und Her zwischen Elternhaus und neuer Bleibe am College (im Kurzfilm On the Pond); eine Reise quer durch Kanada (The Road Ended at the Beach); die Niederlande, wohin er ans Set von Peter Greenaways A Zed and Two Noughts eingeladen war und dort ?O,Zoo! (The Making of a Fiction Film) drehte; Mexiko, Drehort des haiku-inspirierten Kurzfilms Somewhere Between Jalostotitlan and Encarnacion; pankontinentale Dialoge zwischen Wahnsinn und Erinnerung in passing through/torn formations; eine Ozeanüberquerung in Kitchener-Berlin; river – eine unweigerlich nach Hause führende Landschaftsmeditation. Hoffman markiert die Familie als Quelle und Bühne seiner Inspiration. Seine anmutigen Film-Archäologien, über denen der Tod als absentes Zentrum zu schweben scheint, sind grazile Meditationen über Sterblichkeit und deren Repräsentation. Hoffmans ruhelosen Dreharbeiten folgt unweigerlich eine aufwändige, mäandernde Schnittarbeit, die in jedes Bild Geschichte einschreibt und Derridas Diktum, wonach am Anfang immer Wiederholung steht, evoziert. Seine vorsichtig inszenierten Darstellungen seiner Vergangenheit sind zugleich Poesie, Pastiche und Proklamation – eine nachdrückliche Betonung all dessen, was die Qualität des unabhängigen Kinos ausmacht."
(Mike Hoolboom, Inside the Pleasure Dome: Fringe Film in Canada, 2001)
Kanada 2009, HD 93 Minuten
Regie, Kamera, Schnitt: Philip Hoffman
Produktion: Chimera Imaging, Mount Forest, Ontario, Canada
Buch: Philip Hoffman, Janine Marchessault
Musik: Tony Edelmann, Tucker Zimmerman
Tonmischung: Timothy Muirhead
Philip Hoffmans Filmschaffen begann in seiner Kindheit mit dem Interesse an Fotografie. Als ein semioffizieller Familienarchivar war Hoffman fasziniert von Fragen der Realität/Authentizität in Fotografie und später im Film. Nach seiner Ausbildung (Medienkunst und Literatur) begann Hoffman an seinen Filmen zu arbeiten und Film sowie elektronische und computerbasierte Medien zu unterrichten. Derzeit ist er Mitarbeiter des Film and Video Departments der York University.