(Afrikas: Was machen die Schmerzen?) Frankreich 1996 Regie: Raymond Depardon |
165 min., 35mm, 1:1.66, Farbe
Produktion: Palmeraie et Désert, Canal+. Kamera, Ton: Raymond Depardon. Schnitt: Roger Ikhlef. Mischung, Produktionsleitung: Claudine Nougaret. Uraufführung: 8. März 1996, Cinéma du Réel, Paris. Weltvertrieb: Gemaci, 93, 28 Allée Vivaldi, F - 75012 Paris, Tel.: (33-1) 4002 0911, Fax: (33-1) 4002 0940 Kontakt in Berlin: Claudia Rae-Colombani, Stand No 202, Catalan Films and Television, Berlin. Tel.: (265 17 08). Mit Unterstützung der Fondation de France, dem CNC (Centre National du Cinéma), dem Procirep und der FAVI |
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So 16.02. 13:00 Delphi So 16.02. 21:00 Kino 7 im Zoo Palast Mo 17.02. 20:00 Arsenal Di 18.02. 11:30 Akademie der Künste |
Raymond Depardon lehnt das Schweigen über die Armut ab und stellt die Frage nach seiner Verantwortung als ,Bilder-Macher', vom Schmerz zu sprechen.
Wie viele Regisseure und Photographen bemühe ich mich um Genauigkeit. Für mich ist das zur Obsession geworden, ein Bild muß nicht ehrlich sein, aber auf jeden Fall genau. Ich wollte kein road-movie machen. Die Idee war eher, den Blick auf Afrika zu richten - so genau wie möglich, nicht zu journalistisch und auch nicht aus einem zu geographisch-ethnographischen Blickwinkel. Ich fand das Afrikabild sehr schematisch. Zum einen die Bürgerkriege, die Hungersnot, Aids, Gewalt und der Völkermord. Auf der anderen Seite das komplette Gegenteil: die schönen Massai, die kontrastreichen Landschaften, die ewige Wüste, die Sahara - zu schön, um wahr zu sein. Mein Platz war zwischen diesen beiden Extremen. Ich verabschiedete mich vom Journalismus, blieb jedoch bestimmten journalistischen Herangehensweisen treu, ohne aber unter den üblichen Nachteilen leiden zu müssen, wie z.B. nur aufgrund aktueller Ereignisse in die Gebiete zu reisen und nur die Krisenzeiten zu dokumentieren. Mich interessierten die weniger aufregenden Zeiten. Außerdem wollte ich mich der Realität stellen, ohne Team, manchmal mit einer internationalen Organisation, manchmal ganz allein, um einfach nur zuzuhören, vor allem zuzuhören.
Die Länge des Films war von vornherein klar, wie auch einige Prinzipien, die mir sehr am Herzen lagen: pünktlich abzuliefern und möglichst wenig zu drehen, um möglichst viel von dem Material für den Film verwenden zu können.
Mit einer Videokamera dreht man die ganze Zeit und trifft erst am Ende eine Auswahl. Ich hielt es für besser, die Kamera wenig laufen zu lassen. Ich hatte eine Stunde pro Land. Fünfzehn Länder kommen im Film vor, ich konnte also nur ungefähr fünfzehn Minuten pro Land behalten. Ich befand mich auch in diesem Fall außerhalb jeder Norm. Ich wollte so nah wie möglich an meinem ersten Eindruck bleiben. Ich vertraue diesem ersten Eindruck. Danach sieht man gar nichts mehr.
Was soll man aufnehmen? Es ist immer das gleiche Problem, ich werde es nie lösen. Es kommt auf die Themen an. Zum Thema der Gewalt in Südafrika filme ich nur ein Begräbnis und bringe die Spannung zum Ausdruck, die in der Stadt herrscht. Was Aids angeht, weigere ich mich, ein afrikanisches Krankenhaus in seiner Brutalität zu zeigen. Ich wollte kein Horrorkabinett entstehen lassen, sondern vielmehr Fragen an den richtigen Orten stellen. Ich befasse mich nacheinander mit jeweils einem Problem. Natürlich nicht mit allen, dafür reichte die Zeit nicht. Gerne hätte ich das Thema der Beschneidung bei Mädchen angesprochen, ein wichtiges religiöses und kulturelles Problem, oder die Kindheit in den Städten oder die Stellung der Frau. Aber man kann diese Themen nicht mit einem Satz behandeln. Man bräuchte einen zweiten Teil mit einer anderen Route von Djibouti nach Dakar, in dem ich mich mit dem französischsprechenden Teil des Landes befassen würde. In diesem Fall würde ich vielleicht die Form eines road-movies wählen und bräuchte wiederum drei Stunden.
Ich habe den Kommentar in Südafrika aufgenommen. Ich fand ihn ungeschickt, aber gleichzeitig auch von einer außerordentlichen Ehrlichkeit, an der ich nichts ändern wollte. Andere Kommentare habe ich dort entwickelt, deren Aufnahmen entstanden jedoch alle in Frankreich. Die Probleme, die sich mir stellten, waren nicht die des Regisseurs, sondern die des Drehbuchautors. Wenn man nicht zuhören kann, ist der Kommentar schlecht geschrieben. Den Kommentar für AFRIQUES ... habe ich allein auf ein Diktaphon gesprochen, ohne Tonmann. Ich wollte keinen aufgesetzten, gut aufgenommenen Text. Der Ton sollte unsauber und ein bißchen zu laut sein.
Ich wollte herausfinden, wie sich die Dinge entwickelt hatten. Ich war enttäuscht. In Tibesti sind die Menschen ganz auf sich selbst gestellt. Auch dort, wo ich La Captive du désert gedreht habe. Man beruhigt sich, man hätte Zeit mit ihnen verbracht und ihnen Geld gegeben, dann aber wird man sich bewußt, daß das lange vergessen, verschwunden ist. An anderen Orten, die ich nicht kenne, herrscht Geschäftigkeit. Dann komme ich nach Mogadischu und nehme einige etwas persönlichere Themen in Angriff. In jeder Reise steckt eine Entwicklung. Aber ich bin nicht der erste. Der Anfang von Afrique fantôme von Michel Leiris ist ein bißchen schwerfällig. Und dann beginnt er von sich zu sprechen. Es ist logisch, von sich zu sprechen. Verschiedene Afrikaner haben mir gesagt: tatsächlich sprichst Du nur von Deinem Schmerz. Zweifellos ist mein Schmerz meine Besorgnis um Afrika. Aber ich spreche einige Punkte an, wie die Ethnologie, die wirtschaftliche Unabhängigkeit, Aids. Ich stelle meine Ansichten dar, kann aber keine Antworten geben. Das müssen die afrikanischen Regisseure tun, auch sie müssen vorwärts schreiten. Sie können nicht in ewiger Naivität und Romantik verharren. Wir müssen sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen lassen, man hat ihnen zu viel Unterricht erteilt. Aber auch die westliche Welt sollte sich in acht nehmen. Das Fernsehen tendiert weniger als das Kino dazu, die Unterschiede übertrieben darzustellen. In Afrika gibt es dieselben Probleme wie bei uns: Familie, Alltag, Politik, Religion...
Ich bin der Meinung, daß wir unser Afrika-Bild von Grund auf revidieren müssen. Ich habe dort nie gewohnt, ich bin kein Emigrant. Ich nehme die afrikanische Erinnerung nach Paris mit, wie ein Reisender seine Andenken mit nach Hause nimmt. Es ist etwas, was mich in Frage stellt und mich bereichert. Der Kontinent hat mich in Besitz genommen, er hat uns alle in Besitz genommen. Dabei habe ich viele andere Länder kennengelernt: Vietnam, Chile, China. Die ergreifende lyrische Macht Afrikas liegt zweifellos in der Tatsache begründet, daß der Kontinent die Wiege der Menschheit war.
Einleitung: Ich habe den Eindruck, die Völker Afrikas, egal ob im Norden oder Süden, haben eine Gemeinsamkeit: die Scham, mit der sie von ihren Schwierigkeiten sprechen. Ein Beispiel, das sie uns jeden Tag aufs Neue geben.
Ich weiß, daß die französisch sprechenden Afrikaner das Wort ,Schmerz' wie einen Gruß benutzen, um sich davon zu überzeugen, daß es uns während unseres Aufenthalts in Afrika gut geht: "Was macht der Schmerz?", benutzen sie wie ein einfaches ,Guten Tag'. Zurückhaltend von den großen Schmerzen sprechen. Es gibt verschiedene Arten von Schmerz. Gibt es große und kleine Schmerzen? Es gibt vor allem den Schmerz der Armut der Lebenden. Vielleicht kann man sagen, daß der Schmerz mehr als ein Gefühl, mehr als eine Empfindung ist. Der Schmerz als ,Abwehrreaktion', als ,Fingerzeig', wie ihn uns die Ärzte erklären, ist weit davon entfernt, den Afrikanern Sorgen zu bereiten. Wenn es keine Erinnerung an den Schmerz gibt, wenn der Schmerz den Gedanken fremd ist, wird er immer zwischen dem Schweigen und dem Schrei bleiben.
... Seit Afrika hatte ich den Eindruck, alles sei klar. Afrika, seine Probleme, seine Schönheit, die Schlüssigkeit meiner Reise, meiner Arbeit, dieses Films. Alles schien zum Greifen nah, aussuchen, schreiben.
Je näher ich komme, desto größer wird meine Angst, diese Leichtigkeit und diese Sichtweise zu verlieren.
Ich versuche mich an die Person zu erinnern, die ich zu Beginn der Reise war. Ich wollte die Gründe meiner Reise vergessen und meine Wünsche. Ich war zu jenem Zeitpunkt ärmer an Erfahrungen und stellte mir dumme Fragen. Ich erinnere mich, mit einem Freund darüber gesprochen zu haben. Afrika zeigte mir zwei Bilder: eines voller Schmerzen und das andere zu friedlich, um ehrlich zu sein. Heute habe ich das Gefühl, ein ruhiges Gewissen zu haben, endlich, wenigstens für einen Moment.
Drei Jahre lang, mit Unterbrechungen, reist Depardon durch Afrika, allein. Wo er hinkommt, baut er das Stativ auf und läßt die Kamera erst einmal kreisen. Einmal, zweimal, manchmal öfter. Landschaften entfalten sich, Farbkompositionen, atemberaubende Schönheit. "Auch das sind die Werte Afrikas", kontert Depardon, wenn ihm die pessimistische Sichtweise angekreidet wird. Langsam ist seine Kamera, langsam wie sein Blick, und ungewöhnlich, was er sucht. Als er beispielsweise nach langen Wochen des Wartens Nelson Mandela endlich treffen kann, der gerade seine zwanzigjährige Haftzeit hinter sich hat, aber noch nicht Präsident ist, stellt er ihm keine einzige Frage, sondern läßt ihn schweigen. Eine Minute lang. "Good...", sagt Mandela, als die Zeit verstrichen ist. Überhaupt scheint es, als versucht Depardon den skandalösen Bildern und Klischees auszuweichen. Er zeigt keine aufgeblähten Hungerbäuche, sondern begleitet zwei Frauen in Äthiopien, die ein paar dürre Äste für ein kurzes Feuer kilometerweit durch die Landschaft tragen. Sein Atem ist zu hören, keuchend und schnaubend geht er den Frauen mit der Kamera nach. Was er schließlich zeigt, sind ihre Füße. Oder er beobachtet Kinder, die Maiskörner auffangen, die aus einem undichten Laster rieseln. (...)
Bei solchen Einstellungen verzichtet Depardon fast gänzlich auf Schnitte. Er will in Echtzeit filmen: "Jeder Filmemacher trägt die moralische Verantwortung für seine Kameraeinstellung. Die Echtzeit ist eine Garantie. Sie ist empfindlich, weil wir versucht sind, sie zu reduzieren, nur den spektakulären Teil auszuwählen, den ästhetischen oder den, der am meisten Mitleid erregt."
Natürlich gibt es auch Mitleidsbilder. Aber sie halten sich in Grenzen, und das macht sie wahrscheinlich so machtvoll und läßt den Blick indiskret erscheinen: Sie sind stets eingebettet in die Normalität. So dreht Depardon in einem Sterbeheim im Sudan: Sterbelager für Schwerkranke, aber auch Abstellkammer für psychisch Gestörte. Wenn seine Kamera langsam über die von der Krankheit entstellten Körper zieht, mag ihm manch einer Voyeurismus vorwerfen. Natürlich sei er ein Voyeur, kontert Depardon. Sehen sei schließlich sein Beruf. Aber der Voyeur empfindet nur die Lust, Depardon jedoch Schmerz und die eigenen Ängste. Martina Meister, in: Frankfurter Rundschau, 22. November 1996
Raymond Depardon wurde am 6. Juli 1942 in Villefranche-sur-Saône geboren. Nach einer Lehre als Photograph arbeitete er weltweit für die Agentur Dalmas in Paris. 1963 drehte er seinen ersten Dokumentarfilm. 1966 gründete er zusammen mit Gilles Caron die Agentur Gamma. Als Sonderkorrespondent des Fernsehens machte er Dokumentarfilme. Ab 1978 arbeitete er für die Photo-Agentur Magnum. 1981 gründete er die Produktionsfirma Double D Copyright Films.
Seit 1969 stellte Depardon in mehreren Ausstellungen Photos aus, 1991 erhielt er den Grand Prix National de la Photographie. Außerdem veröffentlichte er verschiedene Photobücher, u.a.: ,Chili' (1974), ,Tchad' (1977), ,Le désert américain' (1983), ,Les fiancés de Saigon' (1986),'Depardon/Cinéma' (1993), ,La colline des anges' (1993), ,Return to Vietnam' (1994), ,La Ferme du Garet' (1995), ,La Porte des larmes' (1996), ,En Afrique' (1996).
1963: Venezuela. 1967: Israël. 1968: Biafra. 1969: Ian Pallach. 1970: Tchad (1): L'Embuscade. 1973: Yemen. 1974: 50,82% (von Giscard d'Estaing nicht zur Aufführung freigegeben). 1975-76: Tchad (2) und (3). 1976: Tibesti too. 1977: Numéros zéro. 1980: Reporters. 1980: Dix minutes de silence pour John Lennon, San Clémente. 1982: Piparsod. 1983: Faits divers (Forum 1984). 1984-85: Les années déclic, Empty Quarter/Une femme en Afrique. 1986: New-York, N.Y. 1987: Le petit navire, Urgences. 1989: Une histoire très simple, La captive du désert. 1990: Contacts. 1991: Carthagena (in Contre l'oubli). 1993: Face à la mer. 1994: Montage, Délits Flagrants (Forum 1996). 1996: AFRIQUES, COMMENT ÇA VA AVEC LA DOULEUR? in Vorbereitung: Paroles d'appelés, Usine, Muriel Leferle
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