Niederlande 1996 Regie: Johan van der Keuken |
245 min., 35mm, 1:1.37, Farbe
Produktion: Pieter van Huystee Film & TV. Kamera: Johan van der Keuken. Ton: Noshka van der Lely. Musik: Dionys Breukers. Schnitt: Barbara Hin, Johan van der Keuken. Uraufführung: 29.9.1996, Dutch Film Festival, Utrecht Weltvertrieb: Ideale Audience, 6, rue de L'agent Bailly, 75009 Paris, Tel: (33-1) 49700810, Fax: (33-1) 49700811. |
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Mo 17.02. 11:00 Kino 7 im Zoo Palast Mo 17.02. 14:00 Delphi Di 18.02. 20:00 Arsenal Mi 19.02. 17:00 Akademie der Künste |
AMSTERDAM GLOBAL VILLAGE ist außerdem eine musikalische Reise, von DJ 100% Isis und ihrer House Music bis zu einer ghanesischen Trauerfeier und zu Riccardo Chailly im Concertgebouw. Johan van der Keuken hat große, globale Themen mit sehr persönlichen Geschichten verbunden und so ein schönes und buntes Mosaik geschaffen. Es ist ein liebevolles Portrait der Stadt Amsterdam, die seit vielen Jahrhunderten so vielen Unterschlupf gewährt und dabei den Charme eines Dorfes beibehalten hat.
In Johan van der Keukens Oeuvre kommt Amsterdam selten vor, obwohl der Cineast die meiste Zeit seines Lebens dort verbracht hat. Johan van der Keuken ist mit seiner Kamera durch die ganze Welt gereist. Nur einmal spielte seine Heimatstadt eine Rolle, und zwar in Even Stilte (Amsterdam, das Gesicht einer Stadt, 1963). Es gibt eine Reihe von Gründen, weshalb er sich nach dreißig Jahren mit seinem Zuhause beschäftigt.
"Mir kam die Idee zum ersten Mal, als ich eines Morgens aus dem Fenster schaute und sah, wie sich das Morgenlicht auf dem Wasser und dem Boot gegenüber meinem Haus auf der Gracht spiegelte. Damit wollte ich etwas machen. Außerdem fuhr ich mit dem Fahrrad durch Stadtteile, die ich normalerweise nicht besuche, und wo ich feststellte, daß die meisten Leute auf der Straße nicht weiß waren. Mir kam es so vor, als wäre ich zu Besuch in einer anderen Stadt oder in einem anderen Land. Ich merkte, daß wir die ausgetretenen Pfade unserer Heimatstadt ungern verlassen.
Auf den ersten Blick handelt AMSTERDAM GLOBAL VILLAGE von der Stadt Amsterdam als Schmelztiegel, in dem Repräsentanten verschiedener Kulturen nebeneinander leben. Wir reisen vier Stunden lang durch die Stadt, fangen im Zentrum an, fahren in die Vorstädte und dann weit über die Stadtgrenzen hinaus. Auf der Straße treffen wir viele Einwohner. Bei manchen verweilen wir ein wenig oder wir kehren sogar zu ihnen zurück, andere verschwinden schnell in der Menge. Der Film ist nicht um die Pro- tagonisten und ihre Lebensgeschichten herum strukturiert, sondern basiert ganz nach Van der Keukens Art auf einer Idee.
"Im Juni 1993 schrieb ich das erste Treatment und erhielt daraufhin Förderungsgelder, um es weiterzuentwickeln. Ich wollte eine Art Rundgang durch den magischen Kreis der Stadt kreieren, und zwar auf dem Wasser, in der Luft und zu Land, und damit nicht nur eine horizontale, sondern auch eine vertikale Bewegung einbringen. Entsprechend konnte ich dann die Begegnungen in die Bewegung einbauen.
Die zyklische Struktur, die durch die sich abwechselnden Jahreszeiten besonders betont wird, macht es möglich, in ein und derselben Bewegung die verschiedenen Personen abwechselnd im Film zu zeigen. Es ist eine sehr bunt zusammengewürfelte Gruppe von Menschen jeden Alters mit verschiedenen ethnischen und gesellschaftlichen Hintergründen. Amsterdam ist außerdem nicht der einzige Drehort im Film. Wir reisen mit Borz-Ali und seinem Sohn nach Tschetschenien in sein vom Kriege zerstörtes Heimatdorf. Mit dem Bolivianer Roberto ,fliegen' wir von seiner Wohnung in einem Hochhaus in Bijlmer in die Anden zu einem kleinen Indianerstamm, wo er seine Mutter besucht. Innerhalb der Niederlande wird auch gereist. Die Lebensgeschichte der Jüdin Henny führt von ihrem Haus, in dem sie die ersten Kriegsjahre mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn verbrachte, nach Zeeland, wo ihr Sohn Adri unterkam, als ihr Mann nach Westerbork deportiert wurde und sie selber untertauchte. Die vierte Reise führt nach Thailand zu einem trainierenden Boxer, einer Sequenz, die später im Film mit der Thai-Boxer-Szene in Amsterdam kontrastiert wird.
Der Zuschauer soll nicht den Eindruck bekommen, daß er sich zum Verständnis des Films zu einem intellektueller Kraftakt aufraffen müsse. "Es gibt das allgemein verbreitete Mißverständnis, daß Leute meinen, sie müßten alles verstehen. Es geht um das Verhältnis von physischer Existenz und dem Träumen; im Film kann man darüber nachdenken, ohne das verbal auf einen Nenner bringen zu müssen. Ich bin absolut dagegen, daß jemand, der sich den Film anschaut, vor allem arbeiten muß. Schlußendlich will man doch den Zuschauer mit dem Film ,verführen'. Man lädt ihn/sie auf eine Reise ein; reisen Sie doch mit uns mit!" p> (Annelotte Verhagen, in: Katalog des Nederlands Film Festival, 11. September 1996)
(...) Ich mache es mir auf einem bequemen Kinosessel gemütlich, während der Film ,nach draußen' geht. Dahin, wo ich gerade hergekommen bin, in die Stadt. Zurück zu den Rollschuhfahrern und den Fahrradkurieren. Hier beweist der Regisseur seine Virtuosität ganz und gar. Es ist anderswo mit Recht behauptet worden, daß er seine Kamera wie ein Musikinstrument benutzt, daß er bildlich eine Situation wie ein Jazzsolo darstellen kann. Die Kamera als Saxophon. Zurück in den Vondelpark (...), dann zu einem Treffen, zu dem der Fahrradkurier kommt, (...) der wie ein Astronaut aussieht. Unermüdlich und mit brennender Neugierde erfaßt der Film die um das Kino gelegene Stadt (...).
(Gertjan Zuilhof, in: De Groene Amsterdammer, 16. Oktober 1996)
(...) AMSTERDAM GLOBAL VILLAGE ist wirklich kein Film, der den Zuschauer überrumpelt oder völlig in Beschlag nimmt. Vor allem ist es ein Film, der zum Nachdenken anregt und sich trotz seiner offensichtlich ,freien' Form an das frühere Werk van der Keukens anschließt, einem Regisseur, der sich wie wenige andere in den Niederlanden in seiner Arbeit durch ästhetische und politische Vorstellungen auszeichnet. Die Konzepte von AMSTERDAM GLOBAL VILLAGE entspringen mehr als je zuvor seinen Gedanken und seinem Können.
In Van der Keukens Welt ist nichts so, wie es scheint. Der Besuch einer alten Jüdin in dem Haus, in dem sie vor dem Untertauchen lebte, läuft darauf hinaus, daß sie wieder von Gewissensbissen geplagt wird, weil sie damals ihren Mann auf dem Weg nach Westerbork im Stich gelassen hatte. Der Indianer aus Bolivien, der in sein Heimatdorf zurückkehrt, wird mit dem Unbehagen seiner Mutter konfrontiert. Van der Keuken ist immer auf der Suche nach einem Weg weg vom Obligatorischen und hin zu einer Frage, die den Bildern Sinn und Inhalt verleiht. Und den findet er auch: wer diesen Film sieht, wird Amsterdam niemals mehr so sehen wie vorher.
(Raymond van den Boogaard, in: NRC Handelsblad Amsterdam, 9. Oktober 1996)
Gegen Ende von AMSTERDAM GLOBAL VILLAGE ertönt die Stimme Johan van der Keukens zum ersten Mal auf der Tonspur:"Ich bin in meiner eigenen Stadt auf eine weite Reise gegangen. Ich weiß, daß das Leben ein Traum ist." (...) Fast vier Stunden lang hat uns Van der Keuken entlang der Grachten von Amsterdam und weit darüber hinaus mitgenommen. Das ist eine aufregende Erfahrung, etwa so wie eine filmische Fieberphantasie.
Van der Keuken ist schon immer gerne auf Reisen gegangen, jetzt reist er nicht mehr zu seinem Vorhaben, sondern mit ihm mit. ,Van der Keuken-Reisen' begleitet einen Raumpfleger aus Bijlmer in ein Bergdorf in Bolivien zu dessen Mutter, die ihn seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hat. Oder nach Tschetschenien ins zerschossene Grosny mit einem gerissenen Geschäftsmann, der befürchtet, daß sein Bruder zusammen mit Dudajew umgekommen ist. Oder nach Sarajewo und Thailand.
Es sind beeindruckende Ausflüge, Mini-Dokumentarfilme in einer Rahmenerzählung. Auf dem Schneidetisch wurden Verbindungen hergestellt und Bedeutungen geschaffen. So bekommt das mehrstündige Material seine kaleidoskopartige Form. Doch schon als van der Keuken mit der geschulterten Kamera durch die Stadt lief und fuhr, entstanden die Formen. Van der Keuken dreht alles selbst, ein wichtiges Plus im Vergleich zu anderen Regisseuren, die von Kameraleuten abhängig sind.
Van der Keuken zeigt das multikulturelle Zusammenleben von Amsterdam, wo augenscheinlich keine Obrigkeit etwas zu sagen hat. So tief er in die ghanesische Gemeinschaft oder die der Fahrradkuriere eindringt, so problemlos ignoriert er die offizielle Seite des Zusammenlebens. AMSTERDAM GLOBAL VILLAGE liefert folgerichtig auch keineswegs ein touristisches Bild der Stadt. Impressionistische und soziologische Vorgehensweisen streiten sich um den Vorrang, und das nicht nur in diesem Film. (...) Ununterbrochene Bewegung ist der künstlerische Ausgangspunkt des Films. Solche Entscheidungen in Bezug auf die Form sind ihm heilig, auch in seinen sechsundvierzig anderen Filmen. Es tut nichts zur Sache, ob der Zuschauer realisiert, daß es sich hier um eine bewußte Formgebung handelt. Van der Keuken gehört zu den Künstlern, die der Überzeugung sind, daß man unbewußt immer etwas davon mitbekommt (...). Van der Keuken ist wie ein gastfreundlicher Bürger, der nach einem herzlichen Empfang die Besucher alleine in seiner Stadt umherlaufen läßt (...).
(Huib Stam, in: Volkskrant, Amsterdam, 10. Oktober 1996)
"Ich habe immer gedacht, daß das Leben aus 777 Geschichten auf einmal besteht" - ein Zitat von Bert Schierbeek, das Johan van der Keuken als Motto für seinen vierstündigen Dokumentarfilm AMSTERDAM GLOBAL VILLAGE ausgewählt hat. Es ist nicht nur ein außergewöhnliches Portrait, eine hervorragende Hommage an seine Heimatstadt Amsterdam, es ist zugleich auch ein Reiseabenteuer mit einer Kamera, die in weit entfernte Länder reist, aus denen die zugewanderten Amsterdamer ursprünglich stammen. (...) Das Zitat ist außerdem für den achtundfünfzigjährigen Van der Keuken charakteristisch, der in seinen früheren Filmen immer zu überzeugen suchte, daß neben dem einen Film, den er gerade gedreht hatte, auch 777 andere möglich gewesen wären. äDie Wirklichkeit kann man in Bildern nicht einfangen," sagte er kürzlich in einem Interview, "aber man kann eine Struktur kreieren und behaupten: innerhalb dieser Struktur kann ich mir vorstellen, was Realität sein könnte. In diesem Sinne ist dieses Amsterdam meine Realität."
Johan van der Keuken, einer der wichtigsten und originellsten Dokumentarfilmemacher in den Niederlanden, erzählt keine Geschichten, die ein abgerundetes Ende haben. Er sucht die unerwartete, visuelle Poesie in Menschen und Plätzen und lädt den Zuschauer oft ein, die Phantasie schweifen zu lassen. In seinem letzten Film Face Value kombinierte er eine Reihe von Nahaufnahmen, um eine Art Gruppenbild der vielen Bürger Europas zu kreieren. Seine Bildgeschichten wurden ,Photographenfilme' genannt, weil van der Keuken ursprünglich Photograph war, und seine Herangehensweise an seine Projekte vor allem photographischer Natur ist. (...) Er war weniger an den Spielfilmen der Vorläufer der Nouvelle Vague interessiert, als an Jean Rouch und Nanook of the North des Amerikaners Robert Flaherty; das konfrontierte ihn mit einer sehr anderen Art von Realität, die nicht wie das traditionelle Kino manipulativ war. "Was mich an Dokumentarfilmen interessiert, ist die Tatsache, daß die Protagonisten außerhalb des Films ein Leben haben, was bei Spielfilmen nicht der Fall ist." Mehr als dreißig Jahre lang benutzte er seine ,spontane Kamera' auf der Suche nach der Poesie des unerwarteten Augenblicks. Für ihn war die Kamera eine Art Verlängerung des Körpers, die Kamera wurde zu einer Art Protagonist. Eine Zeitlang ergaben sich aus dieser Konstellation eher abstrakte, unzugängliche Filme, die das breite Publikum nicht anzogen und vor allem von Filmkennern geschätzt wurden. Mit AMSTERDAM GLOBAL VILLAGE hat Johan van der Keuken sein Schaffen erneuert; er vermeidet nicht länger lyrische und dramatische Elemente. (...)
(Marjan Mes, in: De Stem, Amsterdam, 10. Oktober 1996)
Johan van der Keuken wurde 1938 in Amsterdam geboren. Im Alter von zwölf Jahren begann er mit dem Photographieren, und 1955 veröffentlichte er sein erstes Photobuch, ,Wir sind 17'. 1956 erhielt er ein Stipendium vom IDHEC (Institut des Hautes Etudes Cinématographiques) in Paris. Seitdem beschäftigt er sich als Regisseur und Photograph mit dem Thema ,Wahrnehmung der Realität'. Er verfaßt Filmkritiken für eine Anzahl von Zeitungen und schreibt seit 1977 regelmäßig für die Kolumne ,Aus der Welt der Freiberuflichen' in der niederländischen Zeitung ,Skrien'.
1957-60: Paris à l'aube. 1960: Sunday. 1960-63: A Moment's Silence. 1962: Yrrah; Tajiri; Opland; Lucebert; Poet-Painter. 1963: The Old Lady. 1964: Indonesian Boy; Blind Child. 1965: Beppie; Four Walls. 1966: Herman Slobbe/Blind Child 2. 1967: A Film for Lucebert; Big Ben/Ben Webster in Europe. 1968: The Spirit of the Time; The Cat. 1970: Velocity 40-70; Beauty. 1972: Diary. 1973: Bert Schierbeek / The Door; The White Castle; Vietnam Opera; The Wall; The Reading Lesson. 1974: The New Ice Age; Filmmaker's Holiday. 1975: The Palestinians. 1976: Springtime. 1978: Flat Jungle. 1980: The Master and the Giant. 1980-81: The Way South. 1982: De Beeldenstorm (Forum 1982); Iconoclasm / A Storm of Images. 1984: Toys; Time; De Tijd (Forum 1984). 1986: I Love $; Wet Feet in Hongkong; The Unanswered Question. 1988: The Eye Above the Well. 1989/90: The Mask (Forum 1990). 1990: Face Value. 1992/93: Brass Unbound. 1993: Sarajevo Film Festival Film. 1994: Toni's Birthday; On Animal Locomotion; Lucebert, Time and Farewell. 1996: AMSTERDAM GLOBAL VILLAGE.
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