Great Britain 1996 Regie: Andrew Kötting |
100 min., 35mm, 1:1.66, Farbe
Produktion: British Film Institute; Channel 4; Arts Council of England. Kamera: Nick Gordon Smith, Gary Parker. Schnitt: Cliff West. Musik: David Burnand. Ton: Douglas Templeton. Produzenten: Ben Woolford, Ben Gibson, Andy Powell. Uraufführung: August 1996, Edinburgh Film Festival. Weltvertrieb: British Film Institute. 29 Rathbone Street, London W1P 1AG. Großbritannien Tel.: (44-171) 636 55 87, Fax: (44-171) 580 9456. |
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Sa 15.02. 11:00 Kino 7 im Zoo Palast Sa 15.02. 16:30 Delphi So 16.02. 22:30 Arsenal Mo 17.02. 19:30 Akademie der Künste Di 18.02. 19:00 Babylon |
GALLIVANT ist, rein formal gesehen, eine Reisebeschreibung auf mehreren Ebenen, aus drei Perspektiven: Die Route ist einfach - einmal rund um die britische Insel, an der Küste entlang (Start und Ziel ist Bexley in Südengland). Was man vordergründig sieht, ist ein altes Land, das sich verzweifelt bemüht, ins 21. Jahrhundert hinüberzukriechen. Mit wenig Erfolg. Ein bißchen wie die alte DDR mit den Neonreklamen der Westfirmen: darunter sind auch noch die fünfziger Jahre lebendig. Die Leute, denen wir begegnen, haben viele Vorurteile und sind auf ihrer Insel gestrandet. Zukunft scheint es wenig zu geben. Dafür in den Köpfen viele Variationen von Vergangenheit.
Die sich überlappenden Perspektiven umspannen vier Generationen: Gladys, die Großmutter, ist 85, ihr Enkel, der Filmemacher 38, seine Tochter Eden 7. Gladys ist 'straight', sie denkt praktisch, logisch und linear, auch was die Familiengeschichte angeht. Sie ist stolz auf ihre Ur-Enkelin, der Enkel (den sie einmal 'dummer Kerl' nennt) ist ihr wegen des Berufs verdächtig. Eden leidet am Joubert-Syndrom, deshalb kann sie sich nur durch Zeichensprache ausdrücken. Ihre Lebenserwartung ist gering. Für den Regisseur ein Anlaß, die Reise zu dritt anzutreten: "Bevor wir alle verschiedene Wege gehen."
Zu Beginn sehen wir klapprige Ferienwohnungen, alle identisch, wie die berühmten 'Butlin-Camps' der fünfziger Jahre, in denen Arbeiterfamilien sich dank des Nachkriegs-Booms zum ersten Mal Ferien leisten konnten. Wahrscheinlich sind es noch dieselben Häuser, jetzt stehen sie alle leer - Mallorca ist auch hier Trumpf. Die Kamera streift die Rentner-Seebäder der Mittelklasse. Auch hier hat es bessere Zeiten gegeben. Durch Cornwall nach 'Lands End'. Rauhe, steile Felsen. Die Bilder sind verzerrt, verwackelt, wie im Sturm. Gladys bleibt die Stimme der Vernunft, Eden zeigt ihre Freude so laut wie ihre Ablehnung, der Filmemacher hat glücklicherweise keinen genauen Plan. Er spielt mit den Eindrücken.
In Wales so etwas wie politischer Protest: gegen die Engländer, die arroganten Eindringlinge, versteht sich. Kaufen sich die besten Häuser, legen Berg- und Stahlwerke still, unterdrücken die Landessprache und lassen die Jugendlichen arbeitslos herumgammeln. Die Lieder, für die die Waliser berühmt sind, handeln aber auch nur von der Vergangenheit, von einer Zeit der Identität. Brach und traurig sieht es jetzt überall aus, Rugby allein kann die Nation nicht retten.
Blackpool, Nordengland, das Mekka einer Arbeiterklasse, die es nicht mehr gibt. Der Wochenendausflug auf den riesigen Rummelplatz, die verregnete Ferienwoche. Alles zum Teufel.
Die Schotten haben sich im Gegensatz zu den Walisern wacker geschlagen, ihnen werden die Engländer nach der nächsten Wahl ein eigenes Parlament und Steuerfreiheit geben. Die Römer wußten schon, warum sie Hadrians Mauer bauten. Kein Zufall, daß Eden in diesem widerspenstigen Klima mit den stolzen, trinkfesten Leuten zum ersten Mal selbstständig läuft. Gladys hat ein paar Tage ausfallen lassen, aber sie ist wieder dabei, als sich der Filmemacher bei einem Autounfall den Knöchel bricht, als er seine Tochter - vergeblich - zu überreden versucht, zu ihrer Spezialschule zurückzukehren.
Zurück zur Südküste, ein paar Versuche der Anpassung an die kontemporäre Technologie. Hoffnungslos, die alten Bollwerke und Steinmauern werden alles überdauern.
Eine Reise aus der Perspektive eines Kindes, für das sich alles bewegt; einer alten Frau, die noch genug findet, was sie an eine Zeit erinnert, als alle und alles seinen Platz hatte. Und der eines Filmemachers, der ein Gedicht an den Lebenswillen der beiden verfaßt hat. Und über ein Land, das verwirrt ist, dessen kollektiver berlebenswillen kein Ziel mehr kennt.
Das Meer wird sich alles einmal zurückholen. Und das ist gut so.
(Andre Simonoviescz)
In Andrew Köttings erstem Spielfilm GALLIVANT kombiniert der Regisseur die Themen Familienabenteuer und Meer zum vielleicht inspirierendsten Film des Jahres. Die Geschichte ist simpel. Kötting, seine Großmutter und seine Tochter Eden machen sich auf die Reise um die britische Insel. Start und Ziel ist die Südküste. Zusammen erleben sie Abenteuer, treffen viele Menschen, erkunden Fischerdörfer und lernen sich kennen. Kötting filmt die Reise in der Art von Koyaanisqatsi. Wolken ziehen am Himmel entlang, Ebbe und Flut wechseln sich ab, Landschaften sind einen Moment lang sonnendurchflutet, dann wieder liegen sie im Schatten. Große Teile des Dialogs, die kleinen Unterhaltungen, die man führt, wenn man sich gut kennt und die Anwesenheit des anderen schätzt, schweben in der epischen Bilderwelt von Meer und Luft und verleihen ihnen Majestät und Poesie. Manchmal ist der Regisseur im Bild zu sehen. Einmal fällt er ins Meer. Die alte Dame nennt ihn 'dummer Kerl'. Es fällt schwer, den stillen Humanismus des Films zu beschreiben. Es geht um schöne, entspannte Augenblicke. Es ist, als würden die Bilder schreien, wie schön das Leben ist, während die Reisenden ruhig vor sich hin leben. GALLIVANT ist ein Epos, ein road-movie, eine Familienromanze und ein Gedicht über die Gegend, in der Land und Meer aufeinandertreffen.
(Mark Cousins)
Andrew Kötting wurde am 16. Dezember 1959 geboren. Er studierte Medienwissenschaften an der Slade School of Art. Mit Unterstützung des BFI und des Art Councils entstanden mehrere Filme. GALLIVANT ist Köttings erster abendfüllender Spielfilm.
1984: Klipperty Klopp. 1986: Anvil Head The Hun. 1987: Self Heal. 1988: Erik and Ingrid. 1988: Jackofalltradesmasterofnoneinland ofmaneatingtrees. 1989: Hub Bub In the Baobabs. 1990: Hoi Polloi. 1991: Acumen. 1992: Diddykoy. 1992: H.B. 1829; Fleshfilm. 1993: Festival of Brent; Smart Alek. 1994: La Bas. 1995: Jaunt. 1996: GALLIVANT.
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