USA 1996 Regie: Nick Gomez |
97 min., 35mm, 1:1.85, Farbe, EP
Produktion: The Shooting Gallery. Buch: Nick Gomez, nach dem Roman ,Cocain Kids' von Terry Williams. Kamera: Jim Denault. Ausstattung: Susan Bolles. Ton: Jeff Kushner. Musik: Brian Keane. Schnitt: Tracy Granger. Ausführende Produzenten: Larry Meistrich, Donald C. Carter. Darsteller: Michael Rapaport (Dante), Lili Taylor (Mickey), Kevin Corrigan (Cisco), Adam Trese, Isaac Hayes, Tony Danza. Uraufführung: 7. September 1996, Toronto Film Festival. Weltvertrieb: Ken Kamins - International Creative Management, 8942 Wilshire Blvd., Beverly Hills, CA 90211, USA. Tel.: (1-310) 550 4237, (1-310) 550 4100. |
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Fr 14.02. 13:30 Kino 7 im Zoo Palast Fr 14.02. 21:30 Delphi Sa 15.02. 12:30 Arsenal So 16.02. 22:15 Akademie der Künste Fr 21.02. 19:00 Babylon |
Ihre Schwierigkeiten komplizieren sich noch durch die Rückkehr eines alten Geschäftspartners, der gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde. Aus Rache sabotiert er Dantes Projekt mit Hilfe eines korrupten Polizisten. Zusammen mit seinem treuen Handlanger deckt Dante die Verschwörung auf; in einem Katz-und-Maus-Spiel auf den schäbigen Straßen von Miami entstehen daraufhin halsbrecherische Action-Situationen.
Wie eine Fata Morgana schimmert und weht Nick Gomez' illtown über die Leinwand. Die Geschichte von jungen Drogendealern in Florida, die wechselseitig durch ihre Wachträume spuken wie Gespenster ihrer selbst, könnte mit ihrem Unterwasser-Rhythmus weit entfernt scheinen von dem rasenden Tempo von Gomez' erstem Spielfilm Laws of Gravity. Der Effekt ist jedoch derselbe: reine Kinetik. Gomez' Filme nisten sich in Ihrem Solarplexus ebenso ein wie in Ihren Gedanken.
Ich erinnere mich daran, wie ich 1992 nach einer Vorführung von Laws of Gravity in die U-Bahn stieg und mich fühlte, als wäre ich, wie alle anderen Menschen um mich herum, noch immer in dem Film, den ich gerade gesehen hatte. illtown rief ähnliche Gefühle hervor, obwohl ich nur eine Rohschnitt-Fassung, und obendrein auf Video, gesehen hatte. (...)
"Wir fuhren nach Florida, um einen Hongkong-Thriller zu drehen, hatten aber nicht genug Geld und beschlossen deshalb, etwas Experimentelles zu machen", sagt Gomez. Man kann den Einfluß von Takeshi Kitanos Sonatine und von Larry Clark's Kids ebenso erkennen wie das gesamte chinesische Geisterfilm-Genre. Einzelne Momente des täglichen Lebens werden in einem gebrochenen zeitlichen Rahmen angetippt, in dem Prophezeiung und Erinnerung austauschbar erscheinen. Unter der gleißenden Sonne Floridas oder dem giftigen nächtlichen Schimmer von Straßenlaternen und Neonlicht stehen sich Zukunft und Vergangenheit in einem langen gegenwärtigen Augenblick gegenüber. (Die kantige, lyrische Kameraführung stammt von Jim Denault, der schon Nadja und River of Grass mitgestaltet hat.)
Angefangen bei Michael Rapaport, Adam Trese, Kevin Corrigan und Lili Taylor in den Hauptrollen ist die Besetzung des Films durchweg brillant. Die kleineren Rollen ließ Gomez von Schulkindern spielen, die er in Florida getroffen hatte; wie die Hauptdarsteller sind auch sie zugleich ruhig und total elektrisiert - keine leichte Kombination, um sich loszureißen. Ganz unvergeßlich sind zwei Jungen mit Milchgesichtern in der Rolle von drittklassigen Dealern und ein rothaariges Kind, das Taylors taubstummen jüngeren Bruder spielt. (äEr ist nicht wirklich taub; er hat die Zeichensprache in der Highschool nur gelernt, weil es ihn interessiert hat", meint Gomez - und läßt dabei durchblicken, daß Serendipity* in den besten Filmen mitspielt.)
"Wir haben so viel von Lili über das Arbeiten gelernt", sagt Gomez. "Sie hat Michael auf eine neue Stufe geholfen. Michael ist ein Filmstar, aber er hatte bisher nie Gelegenheit, das zu zeigen."
Tatsächlich zeigt Rapaport hier einen Ernst, der vollkommen überraschend ist. Wie seine Nemesis, sein Doppelgänger ähnelt Trese einem von Cocteaus gefallenen Engeln, ein Effekt, der noch verstärkt wird von der Tatsache, daß er häufig durch Überblendungen auf- und abtritt. Taylor, die Rapaports Frau spielt, ist nicht übermäßig ausgefüllt mit ihrer Rolle und wirkt doch reifer als in all ihren früheren Filmen; und Corrigan als Rapaports Handlanger zeigt einmal mehr, daß er sich während eines Satzes schneller und öfter verwandeln kann als jeder andere amerikanische Schauspieler.
Wie Wong Kar-Wai behandelt auch Gomez seine Darsteller mit einer Zärtlichkeit, die in jedem Bild spürbar ist und einem - in Kombination mit seinem Talent, alle Arten von Gewalt an blutenden Körpern vorzuführen - gleichzeitig das Herz öffnet und den Magen umdreht. Diese Zärtlichkeit hängt mit seinem omnipräsenten Sinn für die Sterblichkeit des Menschen zusammen - einem durchaus angebrachten, aber gar zu selten vorkommenden Attribut von Filmregisseuren (wenn man bedenkt, daß das Medium Film von Gespenstern bevölkert ist).
illtown, sagt Gomez, komme aus der Dunkelheit, in der er sich nach Fertigstellung seines zweiten Spielfilms, New Jersey Drive, wiedergefunden hatte. Er merkte, daß er während der Dreharbeiten die Kontrolle über diesen Film verloren hatte, und war außerdem enttäuscht über die Art, wie er in die Kinos gebracht wurde. Obwohl weit aufwendiger als illtown, reichte das Budget von New Jersey Drive nicht aus für die zahllosen Autojagden, die Gomez vorschwebten.
"Die Stimmung und das Tempo von illtown drücken aus, wie gern ich mich in die Arbeit an diesem Film gestürzt habe. Ich mußte ihn machen, um wieder auf die Beine zu kommen. Es war unglaublich hart - zur Zeit sitze ich vierzehn Stunden am Tag im Schneideraum -, aber es war wirklich befriedigend, wieder in einem überschaubaren Rahmen zu arbeiten." Amy Taubin, in: Village Voice, New York, 10. September 1996
* Der Ausdruck, für den es kein deutsches Äquivalent gibt, bezeichnet die Gabe, wertvolle oder angenehme Dinge zufällig, d.h. absichtslos zu finden; er geht auf das persische Märchen ,Die drei Prinzessinnen von Serendip' zurück.
(...) Klingt wie der übliche Straßen-Waffen-Drogen-Gangster-Film, oder? Aber lassen Sie sich nicht täuschen. In illtown verwandelt der Regisseur Nick Gomez die Konventionen dieses Genres mit meisterhafter Eleganz. Anders als sonst in diesem Genre üblich ist die Figurenzeichnung komplex und interessant: In einem Nebenstrang der Handlung taucht ein wunderbarer tauber Bruder auf, und auch Mickeys Schwangerschaft ist in den Handlungsverlauf integriert.
Die Einfühlsamkeit der Inszenierung ist erstaunlich, besonders was die Entwicklung der Hauptfiguren betrifft; ebenso brillant ist auch die intelligente, subtile Spielweise der Hauptdarsteller. Die Erzählstruktur kombiniert Formalismen (das zu Beginn des Films vorweggenommene Ende) mit einer abrupten Schnittechnik, die die Geschichte manchmal extrem schnell voranbringt, die sich aber manchmal auch die Zeit nimmt, eine stimmungsvolle Atmosphäre oder Momente von wortlosem Gefühl zu erzeugen.
Die Ausstattung stellt stilisierte, statische Kompositionen neben Action-Szenen im Stil des ,cinéma vérité' - Gomez' Markenzeichen. In jedem Bild spürt man die Sicherheit eines Filmemachers, dessen Arbeit voller Flair und gedankenreicher Intelligenz ist, und die gegründet ist auf das Fundament einer soliden filmischen Konzeption. Alles in allem eine extrem gute Arbeit. Kay Armatage, in: Katalog des Toronto Film Festival 1996
(...) Gomez' Anliegen bleibt die Rehabilitierung der Antisozialen (Kurzzeit-Gauner, Autodiebe, Heroindealer); kaum ein anderer amerikanischer Filmemacher versteht es besser, den Charme und den Humor einzufangen, der die Kameradschaft und den Ge-meinschaftssinn unter den Outlaws ausmacht - und ihr gespanntes Verhältnis zu Familie und Gesetz (weder die Polizei noch die Menschenrechte können sich durchsetzen). Aber während die ersten beiden Filme von Gomez sich mit diesen Themen noch innerhalb einer bewußt sozialen Dynamik befassen, projiziert illtown sie nach innen, um so ein unberührbares psychisches Terrain zu beschreiben. Ein Film der Blicke und des Schweigens, der unerklärten Gesten, der langsamen Enthüllungen und abrupten Explosionen von Gewalt.
In illtown ist das Böse oberflächlich überwunden durch das noch Schlimmere: Die komplizierte Junkie-Beziehung zwischen Gabriel und Lili ist ein verzerrtes Spiegelbild von Dantes und Mickeys besänftigender Häuslichkeit und bewußtseinsgestörter Menschlichkeit; Gabriels Crew von unbarmherzigen jugendlichen Mördern, ein abschreckender Schlag von Soziopathen, ist weit entfernt von Dantes sanftem Trio etwas verlorener, aber untereinander loyaler jugendlicher Dealer. Die unglaubliche Sentimentalität des Graffitis in dem heruntergekommenen Gebäude am Anfang des Films - ,Liebe, die niemals stirbt', vor Ort gefunden, wie Gomez beteuert - hat weniger mit dem Heroin zu tun, von dem Gabriel und Dante leben, als mit der Erfüllung von Dantes und Mickeys Liebe füreinander; und an die Liebe erinnert Cisco sich in einer langen, unerwarteten, persönlichen Anekdote.
Was auf der materiellen Ebene geschieht, wird nebensächlich, wie es Gomez' abstrakter, poetischer Stil bereits vorweg signalisiert. Die halb spielerisch eingestreute spirituelle Ikonographie, religiöse Anspielungen und bedeutungsschwangere Augenblicke mögen manch einem vielleicht etwas gewollt vorkommen, aber in Wahrheit handelt es sich dabei um eine kluge und reizvolle List, um der Sackgasse des gegenwärtig so gut wie erschöpften Genres zu entgehen - und es funktioniert. Wie Dantes Polizistenfreund und spiritueller Berater bemerkt: "Du wirst niemals finden, was du suchst, wenn du eine einfache Lösung suchst." aus: Film Comment, New York, September/Oktober 1996
Nick Gomez, geboren 1963 in Sommerville (Massachusetts), verließ mit fünfzehn Jahren sein Zuhause und die Schule, geriet zeitweise mit dem Gesetz in Konflikt und jobbte sich durchs Leben. Er ging für ein Jahr nach London, holte seinen Schulabschluß nach und begann an der University of Massachusetts in Boston zu studieren. 1983 zog er nach New York. Er besorgte den Schnitt von Hal Hartleys Film Trust und drehte 1992 seinen ersten Spielfilm.
1988: No Picnic. 1991: Wild Kingdom. 1992: Laws of Gravity (Forum 1993). 1995: New Jersey Drive. 1996: illtown
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