USA 1996 Regie: Ken Jacobs |
90 min.
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So 16.02. 17:00 Akademie der Künste |
Muybridge on Wheels (1996) Trick-Lichtbilder. "Muybridge ,verewigte' seine Modelle in konstanter Vorwärtsbewegung (als ob die Zerkleinerung auf photographischen Platten nicht genug Stillstellung wäre)."
The Georgetown Loop (1995) 35mm. "Dieser Landschaftsfilm verdient eine Bewertung als jugendgefährdend!"
Disorient Express (1995) 35mm. "Berge bewegen sich und verwandeln sich - auf ihrer gegenüberliegenden Seite - optisch."
Loco Motion (1996) Nervous System. "Die klassisch-perspektivischen Schienen sind wildgeworden. Wir sausen dahin, ziellos, bewegungslos, und das Land, das wir vergeblich hinter uns lassen, holt auf, überholt uns."
Three Little Pigs Times Square. Kurzes Tonstück.
On the Bridge (1996) Nervous System. "Im Jahre 1900 nahm eine Filmkamera aus gleichbleibender Position auf der Brooklyn Bridge vorüberfahrende Züge auf. Menschen werden im Vorübergehen erfaßt, unterwegs zwischen Brooklyn und Manhattan und zwischen 1900 und der Ewigkeit."
Stern's Duplex Railway (1905). Vorgeführt ohne Unterbrechung.
In den letzten fünfunddreißig Jahren hat Ken Jacobs erstaunlich vielfältige Zugänge zur Entdeckung der grundlegenden Natur des bewegten Bildes gefunden. Ob er mit altem Filmmaterial arbeitete, kurze komische Geschichten filmte, meditative visuelle Studien und tagebuchartige epische Allegorien herstellte oder mit The Nervous System - seiner innovativen 3-D-Apparatur - Projektions-Performances inszenierte - Jacobs Kunst bezog ihre Faszination immer aus einer einfachen Tatsache: Jede Art von Film ist, trotz seiner Fähigkeit, die Illusion von Realität vor unseren Augen stattfinden zu lassen, eine Aufnahme der Vergangenheit, von Leben, das vor der Kamera vorübergegangen ist.
In Jacobs Kunst erwachen die Standbilder und bekommen so eine quälende Ähnlichkeit mit dem Leben. Und doch demonstriert Jacobs, daß es trotz der Lockung, die in der Fähigkeit des Mediums liegt, Raum und Zeit zu kontrollieren, unmöglich ist, irgendwoanders als in der Gegenwart zu existieren. Als er in den fünfziger Jahren bei Hans Hoffman Malerei studierte, lernte Jacobs, daß die Lebendigkeit der künstlerischen Form aus den Spannungen an der Oberfläche herrührt. Alles, was in einem Film von Jacobs erkundet werden kann, befindet sich eben dort, an der Oberfläche, in dem Spiel zwischen Zwei- und Dreidimensionalität, Reglosigkeit und Bewegung, Vergangenheit und Gegenwart, Illusion und Realität. (...)
Jacobs Kunst beinhaltet eine leidenschaftliche Beschäftigung mit dem vorhandenen Material, was, bezogen auf den Film, bedeutet:mit Bildern der Wirklichkeit. Nirgends ist diese Ekstase der Verzückung lebendiger als in seinen außerordentlichen Nervous System-Performances, in denen analytische Projektoren in wundervoll archaischen Gehäusen dazu verwendet werden, auf höchst subtile Weise choreographierte Manipulation von Raum und Zeit vorzunehmen.
Jacobs kreiert diese beeindruckenden Performances aus kurzen, ausrangierten Filmfragmenten. Es gäbe genügend Bilder in der Welt, sagte Jacobs, als er einmal über die Faszination sprach, die altes Filmmaterial auf ihn ausübt; unsere Aufgabe sollte es sein, sie genau zu betrachten und ihre Tiefen auszuloten. Er sagte auch: "Das sind nicht nur Bilder auf einer Leinwand. Das ist Leben, das vor der Kamera stattgefunden hat."
(David Schwartz, verantwortlicher Kurator für Film & Video am American Museum of the Moving Image, New York)
(...) Jacobs systematischste und anspruchsvollste Transformation unseres Verhältnisses zum Filmbild findet in einer Reihe von Performances statt, die er The Nervous System nennt. Im vergangenen Jahrzehnt hat diese stetig wachsende Anzahl von Arbeiten den größten Teil seiner Energie als Filmemacher in Anspruch genommen. Diese Arbeiten sind so wichtig und anspruchsvoll wie nur irgendetwas in der Geschichte des Avantgardefilms. Die verhältnismäßig geringe Beachtung, die man ihm schenkt, rührt teils von den besonderen Anforderungen ihrer Präsentation her (es handelt sich im wörtlichsten Sinne um Performances - Jacobs muß dabei anwesend sein und die Apparatur bedienen; deshalb kennen sie keine Existenz in konservierter Form) und teils von der tiefgreifenden Offensive, die sie gegen unsere Sehgewohnheiten führen.
Jacobs Arbeitsgerät ist hier einmal nicht die Filmkamera, sondern der Projektor. Der von Jacobs entworfene Projektionsaufbau ist in seiner Komplexität im wesentlichen seine eigene Erfindung. Er besteht, einfach gesagt, aus zwei analytischen Projektoren, die in der Lage sind, einen Film Einzelbild für Einzelbild zu zeigen oder ihn auf der Leinwand stillstehen zu lassen. Beide Projektoren zeigen eine identische Kopie. Jacobs kontrolliert nun das Fortschreiten (oder auch den Rücklauf) des Films Einzelbild für Einzelbild, wobei die Bilder (gewöhnlich nicht mehr als ein Einzelbild) leicht aus der Synchronität geraten. Eine speziell entwickelte verstellbare Blende vor den Projektoren kontrolliert das Verhältnis zwischen den Bildern, hält sie das eine Mal voneinander getrennt, läßt sie ein anderes Mal für variable Zeitintervalle überlappen. Die Blende sorgt darüberhinaus für ein ganzes Spektrum von Flimmereffekten und kann selbst dem Projektorenlicht eine veränderliche Form geben. Zusätzliche Effekte werden durch eine Plattform erzielt, die den Projektoren gestattet, sich leicht horizontal und vertikal gegeneinander zu verschieben und sogar ein wenig zu neigen. Wenn Jacobs die Projektoren in jeder Performance selbst bedient, spielt er auf seiner Apparatur wie ein Musiker. Wir sehen, wie der Film sich in verzögerter Zeit entfaltet, und verarbeiten die leicht unterschiedlichen Bilder. Indem er das automatische Abschnurren von 24 Bildern pro Sekunde aufbricht, führt Jacobs das Kino zurück in seine Vorgeschichte, zu Mareys und Muybridges Bewegungsanalyse. Über das Aufbrechen der Bewegungsillusion hinaus enthüllt Jacobs, wie abhängig unsere Raumwahrnehmung im Film von dieser konstanten mechanischen Geschwindigkeit ist.
Die leicht unterschiedlichen Filmbilder, die von den analytischen Projektoren aus jeder Bewegungsillusion umgeleitet werden, beginnen, räumliche Illusionen zu erzeugen. Es ist seit langem bekannt, daß der Film dreidimensionale Eindrücke hervorrufen kann, indem er zwei gleichzeitige Bilder projiziert, deren Abweichung exakt der biokularen Wahrnehmung des Menschen entspricht. Der Nutzen, den das kommerzielle Kino daraus gezogen hat, ist der Gag mit den 3-D-Filmen, in denen Löwen von der Leinwand springen. Im Kino des Mainstreams ist 3-D immer nur eine Mode geblieben, die nie ihren bleibenden Platz gefunden hat; das gelegentliche Wiederaufkommen von 3-D deutet jedoch die elementare Faszination an, die dieses Phänomen auf die Zuschauer ausübt. Der Projektionsaufbau von THE NERVOUS SYSTEM erzeugt paradoxerweise einen Effekt ähnlich den 3-D-Filmen, bei dem die von der Bewegung zwischen zwei Filmbildern hergestellte Abweichung die biokulare Parallaxe ersetzt (für einige seiner Performances verwendet Jacobs Polaroid-Linsen, bei anderen verläßt er sich schlicht auf die Fähigkeit des menschlichen Geistes, die Bilder aus eigener Kraft zu verarbeiten). Unter den bedeutenderen Filmemachern ist Jacobs der einzige, der das verborgene Potential der 3-D-Illusion auf der Leinwand zutage fördert.
Obwohl THE NERVOUS SYSTEM die gewohnte, nahtlose Bewegungsillusion von 24 Bildern pro Sekunde untergräbt, wird es doch nie zu einer Abfolge von statischen Bildern. Die Möglichkeit von Bewegung verfolgt diese zitternden Bilder, und Jacobs entdeckt in den Nahtstellen zwischen den Einzelbildern eine ganze Palette von Bewegungsillusionen. Nicht nur werden der Moment des Übergangs in der menschlichen Gestik oder die Ausdehnung der Natur aufreizend hinausgezögert und sondiert: das Wunder der Verwandlung von Reglosigkeit in Bewegung findet vor unseren Augen statt. THE NERVOUS SYSTEM überwindet Zenos Paradox, da Bewegung sich hier aus unendlichen kleinen Zuwachsraten zusammensetzt. Weiterhin erzeugen Manipulationen an der Blende und der Position der Projektoren sehr oft wahrhaft paradoxe Bewegungserfahrungen, wenn die Leinwand selbst vor uns leicht zu rotieren scheint und uns in ihre Tiefe einlädt oder aus der Leinwand zu uns hervorbricht. Der Ablauf der Bewegung stoppt, kehrt sich um, zerfällt in seine Bestandteile und stellt sich wieder her. Hier haben wir, nach fast einem Jahrhundert, wahrhafte ,motion pictures', in denen Bewegung niemals einfach hingenommen wird, sondern sich in einem Fluß und Rückfluß der Wahrnehmung stetig neu präsentiert.
Jacobs 3-D-Filme zielen selten auf lebensechte Illusion (obgleich einige Filme, wie z.B. Globe, sie auf ironische Weise nahelegen). THE NERVOUS SYSTEM verwendet noch nicht einmal Filme, die zu ihrer Zeit im 3-D-Verfahren aufgenommen wurden. Stattdessen erzeugt Jacobs mit seinem Projektionsverfahren eine merkwürdig schwankende Illusion von drei Dimensionen. Statt einer Illusion ausgesetzt zu werden, beobachten wir, wie der Vorgang der Wahrnehmung selbst sich vollzieht. Ein eigenartiges, zitterndes Bild nimmt vor unseren Augen Gestalt an, wie es scheint jederzeit kurz davor, in Bewegung auszubrechen oder sich in eine dreidimensionale Illusion umzuwandeln. Aber es zögert, zitternd vor uns, und scheint sich in die grundlegenden Bestandteile von Zeit und Bewegung, Raum und Objekten zu zerlegen.
The Nervous System spielt auf unserem Nervensystem. Jacobs bedient nicht nur seine analytischen Projektoren, er schaltet sich in unsere ureigensten Wahrnehmungsvorgänge ein. Unsere grundlegende Fähigkeit, Gestalt und Hintergrund, Bewegung aus Stillstand wahrzunehmen und Raum und Zeit zu synthetisieren, wird zum Spielball, als ob wir mit der Leinwand kurzgeschlossen wären. Raum, Bewegung, Zeit und der Tanz der Bilder vor uns - permanent auseinanderbrechend und sich neu zusammensetzend. The Nervous System verlangt seinem Publikum sehr viel ab. Es fokussiert unsere Aufmerksamkeit auf Prozesse, die gewöhnlich unbewußt ablaufen, auf unseren eigenen mentalen Beitrag zu den Bildern auf der Leinwand; es vollbringt eine Synthese von Einzelbildern zu Bewegung, von Mustern aus Licht und Schatten zum Raum. Niemals zuvor war die Position des Zuschauers so gefährdet, wurden die Nähte, die den Zuschauer an die Leinwand fesseln, so radikal aufgetrennt.
Jacobs öffnet den Blick auf die Wahrnehmung und stellt die Geschlossenheit unserer visuell privilegierten Position als Zuschauer in Frage. Das Resultat ist zugleich erregend und beängstigend. Indem wir uns unserer Rolle bei der Konstruktion von bewegten Bildern bewußt werden, erkennen wir auch die Macht, die die Kino-Apparatur über uns hat. Ich habe noch nie einer Nervous System-Performance beigewohnt, ohne das schwindelerregende Gefühl zu verspüren, an einer Ur-Schwelle taumelnd die Kontrolle zu verlieren. Man beginnt, zwischen Räumen eine Synthese herzustellen, die keinen Sinn ergibt (jene Momente in Filmen, in denen Vordergrund und Hintergrund ihre Plätze zu tauschen scheinen) und Bilder zu sehen, wo gar keine sind (...).
(Tom Gunning: ,Films that Tell Time': The Paradoxes of the Cinema of Ken Jacobs; Essay zur Ken Jacobs-Retrospektive im American Museum of the Moving Image, New York 1989.)
Ken Jacobs, geboren am 25. Mai 1933 in Williamsburg, Brooklyn. Besuchte die High School of Industrial Arts und frequentierte die Filmvorführungen des Museum of Modern Art in New York. Bekanntschaft mkit George Grosz. Ersatzdienst bei der US Coast Guard. 1955 Fortsetzung des Studiums der Malerei in New York, ab 1956 bei Hans Hoffmann. 1956 Freundschaft mit dem Filmemacher Jack Smith. Erste Filme und Versuche im Schattentheater. Begründung des Millenium Film Workshop in New York. Filmunterricht an der St. Johns University. 1969 Begründung des Film Departments an der State University of New York in Binghamton zusammen mit Larry Gottheim. Ab 1971 eigene Filmprofessur in Binghamton (bis heute). 1986 Aufenthalt in Berlin als Gast des D.A.A.D. (Berliner Künstlerprogramm). 1996 Umfassende Filmretrospektive im Museum of Modern Art in New York.
1956: Orchard Street. 1957: Saturday Afternoon Blood Sacrifice; T.V. Plug; Little Cobra Dance. 1958-60: Little Stabs at Happiness; Star Spangled to Death (unvollendet). 1960-63: Blonde Cobra. 1963: Baud'larian Capers. 1964: Window. 1964/85: The Winter Footage (8mm/16mm). 1965: Lisa and Joey in Connecticut, January '65; ,You've Come Back' ,You're Still Here'. 1964-66/88: The Sky Socialist (8mm/16mm). 1967: Air Shaft. 1968: Soft Rain. 1969: Tom, Tom the Piper's Son; Nissan Ariana Window; Globe. 1975: Urban Peasants. 1978: The Doctor's Dream. 1985: Perfect Film. 1986: The Alps and the Jews (work-in-progress). 1987: Jerry Takes a Back Seat, Then Passes Out of the Picture. 1989: Opening the Nineteenth Century: 1896. 1991: Keaton's Cops. 1995: The Georgetown Loop; Disorient Express
Theaterarbeiten mit Schattentheater oder Filmen/Theater Works, all involving shadowplay or film)
1965: The Big Blackout of '65: Chapter One "Thirties Man". 1970: Restful Moments (2- and 3-dimensional shadowplay). 1972: A Good Night for the Movies: 4th of July by Charles Ives by Ken Jacobs. 1974: A Man's Home is His Castle Film: The European Theater of Operations; "Slow is Beauty"-Rodin (2- and 3-dimensional shadowplay). 1975: The Boxer Rebellion (2- and 3-dimensional shadowplay). 1976: Flop: 4th of July. 1977: Air of Inconsequence (3-dimensional shadowplay). 1979: Ken Jacobs at the console performing Stick to your Carpentry and You Won't Get Nailed. 1994: Audio-Visual Vaudeville (2- and 3-dimensional shadowplay, Univ. of Colorado at Boulder); Audio-Visual Vaudeville (2- and 3-dimensional shadowplay, Cleveland Institute for the Arts, Ohio)
(The Nervous System, a unique double-analysis projector set-up, deriving 3-D from standard 2-D film, most often archival and other found footage)
1975: The Impossible: Chapter One "Southwark Fair" . 1979: The Impossible: Chapter Two "1896". 1980: The Impossible: Chapter Three "Hell Breaks Loose"; The Impossible: Chapter Four "Schilling"; The Impossible: Chapter Five "The Wrong Laurel"; XCXHXEXRXRXIXEXS. 1981: Ken Jacobs Theater of Unconscionable Stupidity Presents Camera Thrills of the War. 1982: The Whole Shebang. 1983: Making Light of History: The Philippines Adventure. 1989: Two Wrenching Departures. 1990: The Subcinema. 1993: New York Ghetto Fish Market 1903. 1994: Bitemporal Vision: The Sea. 1995: The Marriage of Heaven and Hell (A Flicker of Life). 1996: Loco Motion; From Muybridge to Brooklyn Bridge
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