Deutschland 1996 Regie: Rainer Hartleb |
77 min., Video
Buch: Rainer Hartleb, Wilhelm Bittorf. Kamera: Rainer Hartleb. Musik: Gunnar Edander. Uraufführung: 24.11.1996, ARD/BR. Produzent/Weltvertrieb: Tele Potsdam GmbH, Medienhaus, August-Bebel-Straße 26-53. Tel.: (49-331) 7215325, Fax: (49-331) 7215326. |
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Mo 24.02. 17:30 Arsenal |
,Our little town' ist Hildburghausen an der Werra im südlichsten Winkel Thüringens. Hildburghausen, da sind wir sicher, ist nicht zu schlagen als eine Miniaturbühne des 20. Jahrhunderts, auf der sich Leiden und Illusionen von mehr als drei Generationen und politischen Systemen mit großer Übersichtlichkeit abspielen.
Die Autoren Rainer Hartleb (Stockholm) und Wilhelm Bittorf (Hamburg) haben beide eine sehr persönliche und familiäre Bindung an die Stadt. Der eine, 1929 dort geboren, hat die Stadt 1949 verlassen und ist 1989 das erste Mal zurückgekehrt, der andere, 1944 geboren, dort aufgewachsen, ging 1952 nach Schweden und hat ab 1988 Material mit seiner Familie und den ehemaligen Nachbarn für's schwedische Fernsehen gedreht. Inzwischen haben beide reiches Amateurfilm-und Fotomaterial über die Jahrzehnte ihrer Abwesenheit gefunden.
So werden die beiden Autoren ein halbes Jahrhundert deutscher Geschichte in einem ostdeutschen Liliput erzählen, in dem die Schicksale von Tante Ursel, Onkel Schorsch, Cousine Rosie, Katie, Udo, Walter und die Kindheit der Autoren und ihre Wiederkehr zu einem deutschen Kleinstadt-Roman verwoben sind.
Wolkenverhangener Himmel, Wälder, grüne Wiesen, sanfte Hügel: Die Kamera nimmt ein ganzes Panorama ins Visier. Und dann der erste Satz: "Es gibt Landschaften, die man immer mit sich trägt." Noch weiß man gar nicht, was dieses ,Wiedersehen in Hildburghausen' zu bedeuten hat - da ist bereits eine sehr persönliche, kontemplative Stimmung etabliert. Sie wird sich bis zum Ende halten. Und wenn man die Hildburghausener Familie des Autors Rainer Hartleb verlassen hat, weiß man, daß es noch immer Neues, Bewegendes zu erfahren gibt über die Folgen der Wende in der real nicht mehr existierenden DDR.
Mehrere Glücksfälle kommen hier zusammen: ein Autor, der den persönlichen mit dem distanzierten Blick verbinden kann. Denn Rainer Hartleb ist in diesem Ort am Rand von Thüringen geboren und 1952, im Alter von acht Jahren, mit seiner Mutter nach Schweden ausgewandert. Von dort kam er ab 1988 regelmäßig nach Hildburghausen zu Besuch - als Familien-Dokumentarist, dem die Verwandten vertrauen können, und nicht als Journalistengeier, der aus der Verbitterung von fremden Leuten eine ,Ossi'-Reportage machen will. Der zweite Glücksfall: ein Hildburghausener Vetter, der seit 1961 als Amateurfilmer jedes Familienereignis filmte und diese private Chronik des DDR-Alltags zu Hartlebs Dokumentarfilm beisteuern kann. Der dritte Glücksfall: ein Hildburghausener Fotograf, der Tausende von Fotos hinterlassen hat, die eine historische Chronik des DDR-Alltags ergeben.
Aber auch Glücksfälle brauchen eine Hand, die ordnet, auswählt, arrangiert. Auch Glücksfälle muß man inszenieren und kommentieren können, damit etwas daraus entsteht, das mehr erzählt, als wir schon aus vielen monotonen Post-DDR-Bestandsaufnahmen wissen. Und Hartleb hat diese seltene Fähigkeit: Er zieht uns in die Lebensgeschichten von Schorsch, Tante Ursel, Monika, Rosi, Hans und deren Kinder fast unmerklich immer tiefer hinein, bis man an der kleinen Familienchronik die tiefen Spuren erkennen kann, die die geschichtlichen Veränderungen hinterlassen haben.
Hartleb kommt in seiner Kommentierung fast ohne Worte aus, läßt im wahrsten Sinn des Wortes die Bilder sprechen, die Gesichter - das uralte, runzlige Gesicht von Tante Ursel, die kurz nach ihrem Umzug ins Altersheim gestorben ist, das junge, lebenslustige Gesicht von Thomas, der eigentlich "fremde Länder" sehen will, aber dem Vater Schorsch zuliebe den Optikerladen übernehmen wird, Schorsch, der mit einem weiteren Optikergeschäft expandieren wollte, sich aber schwer verkalkulierte und am Telefon verlegen lachend von "meinen Gallensteinen" spricht, Tante Rosi, mit einem Konfektionsgeschäft die Stütze der Familie, an deren Küche sich bescheidener Wohlstand - neue Möbel -, aber auch immer bedrängender werdende familiäre Enge ablesen läßt, und ihr Mann Hans, der als Zivil-Mechaniker bei der Volksarmee die Mauer mit errichten - und wieder mit abreißen helfen mußte. "Was hab ich gemacht in dreißig Jahren? Nichts", sagt er. Und wenn das auch so verbittert klingt, wie man es schon tausendmal gehört zu haben glaubt, liegt doch ein anderer als der bekannte Ton in dieser Äußerung: Man hat den Amateurfilm der Hochzeit von Rosi und Hans gesehen und begreift auf einmal, was verlorene Lebenszeit bedeutet.
Darin liegt die große Stärke der Dokumentation. Sie läßt einen begreifen, ohne zu agitieren oder zu belehren. Kaum je fällt ein Wort, das den familiären Rahmen übersteigt, und keiner aus der Familie wird als ,Exemplar' mißbraucht, an dem der Autor die allgemeine Entwicklung in ostdeutschen Familien demonstrieren will. Hartleb schützt diese Menschen als Individuen, die ,in der Landschaft meines Vaters' verwurzelt sind und nun als sozial Entwurzelte über ihr Leben reflektieren. So selbstverständlich und vertrauensvoll, wie man es nur einem klugen, verstehenden Verwandten gegenüber tut, der Neugier und Zuneigung mit soziologischer Sensibilität verbinden kann. (Sybille Simon-Zülch, in: epd / Kirche und Rundfunk, Nr. 95, 4.12.1996)
Rainer Hartleb wurde 1944 in Berlin geboren und zog im Alter von acht Jahren nach Stockholm. Hartleb macht seit 1968 Filme. Seitdem hat er zahlreiche Dokumentarfilme für das schwedische Fernsehen gedreht. Seit 1987 arbeitet er unabhängig.
1983: Hemligheter (Secrets). 1984: Along the Ganges. 1986: Love is all. 1990: Calcutta One Day, After the Wall. 1972 - 1995: Barnen från Jordbro (Forum 1996). 1996: WIEDERSEHEN IN HILDBURGHAUSEN.
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