(Später Vollmond) Bulgarien / Ungarn 1996 Regie: Eduard Sachariev |
117 min., 35mm, 1:1.66, Farbe, WP
Produktion: Eduard Sachariew. Co-Produktion: Bulgarisches Fernsehen, Filmstudio Budapest. Buch: Eduard Sachariew. Kamera: Emil Hristow. Ausstattung: Irena Muratowa. Schnitt: Kamen Ferdinandew. Ton: Iwan Wentzislawow. Musik: Kiril Donchew. Darsteller: Itzak Finzti, Nikolai Urumow, Virginia Kelmelite, George Cherkelow. Uraufführung: 4. Oktober 1996, Nationales Filmfestival Varna. Weltvertrieb: Eduard Sachariew FEZ, 12, Kosta Lulchew Str. 13, Sofia, Bulgarien. Tel./Fax: (3592) 722593. |
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Sa 15.02. 16:00 Kino 7 im Zoo Palast Sa 15.02. 19:00 Delphi So 16.02. 10:00 Arsenal Do 20.02. 19:00 Babylon |
Im Mittelpunkt des Films steht ein älterer Mann, ein komplizierter Mensch mit wechselhaften Launen. Er lebt mit seinem Sohn, seiner Schwiegertochter und seinem Enkel zusammen. Die Atmosphäre zwischen ihnen wird immer gespannter.
Der Sohn versucht, sich auf die neue Situation einzustellen und wird Geschäftsmann. Dadurch verändert er sich allmählich. Der alte Mann hat für seine Ziele weder Verständnis noch unterstützt er ihn. Umgekehrt zeigt der Sohn wenig Verständnis für den Vater. So entwickelt sich die Familie allmählich auseinander. Jeder leidet für sich und tastet sich vorwärts auf der Suche nach sich selbst und der Wahrheit im Leben.
Dann ein riesiger Vollmond in der Form einer Orange, schnell vorüberziehende Wolken, zwischen den Bäumen einige gelbe Häuser. Ein Speisesaal, in dem alte Menschen sitzen - auch der alte Mann, der jetzt im Altersheim lebt. Eines Nachts läuft er weg; eine alte Frau, die sich in ihn verliebt hat, schließt sich ihm an.
Der alte Mann trifft zwei Freunde von früher wieder. Zusammen schmieden sie Pläne , um eine Bank auszurauben. Doch sie haben Pech: durch einen harmlosen Witz kommt einer der drei ums Leben. Der alte Mann bleibt ohne Dach über dem Kopf zurück. Verzweifelt versucht er, mit dem zu überleben, was er in Mülltonnen findet. Wie in einem Märchen aber findet er plötzlich einen Koffer voller Geld. Kurze Zeit später liegen die Geldbündel vor ihm und seinem Sohn auf dem Tisch. Diese letzte Zusammenkunft der beiden ist zugleich dramatisch und komisch.
Dann scheint wieder der riesige Mond...
(Eduard Sachariew)
Eduard Sachariew und ich besuchten den gleichen Jahrgang an der Filmhochschule in Budapest. Er kam später; die anderen kannten sich schon einige Wochen, als er, aus Bulgarien kommend, sich uns anschloß. Anfangs mußte er die Sprache lernen, und da die Mädchen ihm dabei gleich gern behilflich waren, konnte er bald sehr gut ungarisch sprechen. Er war ein sehr liebenswerter, bescheidener und überaus ehrlicher Junge, und sein ganzes Leben lang bewahrte er diese Eigenschaften. Zum letztenmal traf ich ihn im Kino ,Arsenal' in Berlin, wo seine Filme in einer Retrospektive gezeigt wurden. Er war aus Sofia angereist, um die Einführung zu halten. Ich hörte zu, wie er zu dem Berliner Publikum sprach, und Freude erfüllte mich dabei, da er sich überhaupt nicht verändert hatte, er war mit über fünfzig genauso bescheiden und liebenswürdig wie damals, als er noch neunzehn war.
Ich war der Kameramann bei seinem ersten Film, den er für seine Abschlußprüfung gedreht hatte. In einer Szene bat er mich, mit der Kamera von ganz unten in die Höhe hochzufahren. Aus der Hocke kam ich hoch, stieg dann auf einen Stuhl, vom Stuhl auf den Tisch - dies war die aufregendste Aufnahme meines Lebens. Wir nannten das damals ,Wirbelsäulen-Kran'.
Auch damals rauchte er schon viel, seine Finger waren gelb vom Tabak. Die vielen Zigaretten töteten ihn, meinten die Ärzte. Sie wußten nicht, daß er den Zweiten Weltkrieg und auch die Ängste seiner Eltern in der russischen Emigration miterleben mußte, daß er zur Schule ging während der Stalin-Ära, daß er 1956 in Budapest war, daß er in harten Jahren mutige Drehbücher geschrieben hat, die man nacheinander verbot, daß er wegen der Zensur jahrelang nicht arbeiten durfte, daß er während der politischen Wandlungen niemals den Mantel nach dem Wind gehängt hat, daß er nach dem Sturz der Diktatur durch die Geldmacht gestoppt wurde - aber vielleicht haben die Ärzte doch Recht, und das einzig Schlimme in seinem Leben war, daß er viel geraucht hat.
Ich wünsche, Eduard ruhe in Frieden, und wenn es ein Jenseits auch für die Filmemacher gibt, soll er dort mit denen zusammensein, die er so sehr ehrte und liebte und die uns genauso jung verlassen haben: Eisenstein, Tarkowski, Paradshanow.
(Istvan Szabo, Budapest, Februar 1997)
Eines Tages Ende April oder Anfang Mai vorigen Jahres rief eine Freundin aus Sofia an. Eduard Sachariew (wir nennen ihn Edi), ginge es sehr schlecht. Er könne nicht mehr aufstehen und wolle auch nicht noch eine Chemotherapie über sich ergehen lassen. Er habe sich eingeredet, daß der Gemüsesaft eines Schweizer Herstellers in einer bestimmten Zusammensetzung ihm helfen oder doch zumindest seine Tage verlängern würde, damit er seinen letzten Film fertig stellen kann. Es hat einige Tage gedauert, ein Reformhaus zu finden, das diesen Saft führte. Nach einem weiteren Tag war auch eine einigermaßen regelmäßige Transportmöglichkeit gefunden. Die Saftbrücke nach Sofia stand.
Wenige Tage zuvor hatte Edi den Rohschnitt seines Films abgeschlossen. Er sagte zu Itzko Fintzi, dem Hauptdarsteller und besten Freund, er habe das Gefühl, der Film sei im großen und ganzen so gelungen, wie er ihn gedacht habe: kantig, emotional. Jetzt würde er Licht am Ende des Tunnels sehen, der Weg sei klar, es würde nicht mehr lange dauern.
Wie die meisten Arbeiten von Edi ist SPÄTER VOLLMOND ein Film ohne ,falsche Schönheit' geworden. In kräftigen, gelegentlich groben Strichen erzählt, wirkt er tatsächlich kantig, manchmal fast roh und unbehauen. Er verliert sich nie in überflüssigen Details filigraner Übergänge, ist aber oft sehr genau und ausführlich innerhalb der Szenen. Der Film ist dem emotionalen Gestus mehr verpflichtet als der dramaturgischen Linie. Er bleibt sehr nahe an der Hauptfigur - ein knorriger alter Mann, dem das Altwerden nicht leicht fällt, der die neuen Zeiten, die da über ihn hereingebrochen sind, nicht begreift, der seine Kanten und Ecken hat - wie der Film auch. Es ist der letzte von insgesamt vierzehn Filmen eines Mannes, dessen Arbeit ich sehr mag, dem ich etliche Jahre freundschaftlich verbunden war, der - nur unwesentlich älter - für mich immer so etwas wie Maßstab war für künstlerischen Anspruch und persönliche Integrität.
Edi kommt Anfang der sechziger Jahre nach Sofia. Er hat gerade sein Studium in Budapest abgeschlossen und ist begierig, Filme zu machen. Er muß sich eine Weile gedulden. 1962 kommt Schienen in den Himmel, der erste Dokumentarfilm; drei Jahre später Salz, der zweite. Die Cineasten sind beeindruckt: diese expressive Kraft der Bilder, der Montage, dieses genaue Gefühl für Rhythmus, für die Poetik des Filmischen! Ja, ja, zweifelsohne ein großes Talent, das sich da ankündigt. Gleich danach, 1966, der Spielfilmerstling Wenn kein Zug kommt; zwei Jahre später der zweite: Der Himmel über Weleka. Der erste große Ärger mit den Machthabern. Edi muß umschneiden, wichtige Szenen entfernen. Er kämpft, natürlich vergeblich und leidet darunter sehr. Der Film wird offiziell nicht verboten. Er wird im Urlaubsmonat August ohne Werbung und Plakat in einem Kino in Sofia gezeigt und wegen Mangel an Besuchern nach wenigen Tagen abgesetzt. Dann dauert‘s wieder. Bis er den nächsten größeren Film machen darf, vergehen fünf Jahre. Dazwischen zwei Dokumentarfilme - Stahl (1970) und BDJ (1971). Und wieder sind die Cineasten beeindruckt. Besonders BDJ, ein Auftragsfilm der Bulgarischen Staatseisenbahn: diese formale Eleganz, die Leichtigkeit der Struktur, die Stilsicherheit, die Perfektion der Mittel ... Ein Film wie Brüsseler Spitze.
Zwei kleine Filme in fünf Jahren lassen viel Zeit zum Nachdenken. Wahrscheinlich ist es die Zeit, in der Edi endgültig zu sich selbst findet, zu seinem realistisch-ironischen Erzählduktus, zur unspektakulären, uneitlen Filmsprache, die niemals, auch beim großen emotionalen Ausbruch, zur Pose wird, die sich diszipliniert, oft selbstironisch zurücknimmt, um die Figur und ihren Darsteller nicht zu verdecken. Edi wird später in einem Interview den Begriff der ,falschen Schönheit' finden, mit der er die selbstverliebte ästhetische Spielerei gleichermaßen wie die ästhetisierende Verklärung meint, die nach seiner Überzeugung unbedingt zu meiden sind.
Bei aller Virtuosität der frühen Dokumentarfilme hat Edi sich nie als Dokumentarist verstanden. Er war ein Geschichtenerzähler mit genauem Blick für realistische Situationen und glaubwürdige Charaktere. Man wird in seinen Filmen keine bedeutungsträchtigen Metaphern, keine kunstbeflissenen Monologe und kryptischen Montagesequenzen finden. Oft aber wird man das Gefühl haben, ein Geschehen auf der Straßenseite gegenüber zu betrachten. Und dann, bei allem Realismus, schlagen seine Geschichten unerwartete Purzelbäume und Eskapaden, die uns Geschehen und Figuren in neuem Lichte und in neuer, meist ironischer Brechung darstellen.
1973 macht Edi Die Zählung der wilden Hasen, einen wichtiger Film, der auch zwanzig Jahre nach seiner Entstehung in einer Umfrage 1993 zu den zehn besten bulgarischen Filme gezählt wird. Es ist der erste Film von Edi, in dem Itzko (Itzhak) Fintzi die Hauptrolle spielt. Vier weitere werden folgen. In diesem und in seinem nächsten Film (Gartenparty, 1975) zeichnet Edi satirische Porträts des kleinen Mannes aus der Provinz - naiv und verschlagen, der sich mit den Umständen arrangiert. Die Umstände - das ist die lähmende Starre der Breshnewschen Zeit. Die Filme sind gleichermaßen vergnügliches Kino und soziologische Studie. Bei aller lebensrealistischen Charakterisierung interessieren die Figuren nur, insofern sie die gesellschaftlichen Umstände spiegeln. Das wird in Männerzeiten (1977) und in den Filmen danach anders. Das Interesse des Regisseurs verlagert sich auf die Strudel und Untiefen der menschlichen Leidenschaften.
1982 gibt es mit Elegie den nächsten großen Krach. Edi muß wieder Szenen herausnehmen, kürzen. Das kennt er schon. Der Drehbuchautor sagt sich öffentlich vom Film los. Das ist für Edi neu. Er leidet sehr.
So entstehen in knapp fünfunddreißig Jahren vierzehn Filme, davon vier kurze Dokumentarfilme. Dazwischen immer zwei oder drei, manchmal fünf Jahre erzwungene Pausen. Nichts entsteht einfach und selbstverständlich. Alles muß erkämpft und erlitten werden. Während des ,real existierenden Sozialismus' versucht Edi, so gut es geht, sich abseits vom offiziellen Geschehen zu halten. Anders als viele Kollegen sucht er nicht die Nähe zu Funktionären des Kulturbetriebes, im Gegenteil tut er meist so, als gäbe es sie nicht. Er ist auch nicht für die Mitgliedschaft in Kommissionen und Ausschüssen zu haben. Diese Distanz ist unübersehbar und manchem Funktionär ein Dorn im Auge. Manche sehen darin eine große Bescheidenheit, andere vermuten elitären Hochmut. In Wirklichkeit war Edi ein freundlicher und ausgesprochen gütiger Mensch, ein geistreicher, amüsanter und anregender Gesprächspartner, ein begnadeter Geschichtenerzähler voller Witz und Ironie.
Er blieb sich nach der Wende treu, hielt sich wieder abseits und fern der Politik. Anders als viele Kollegen kungelte er weder mit Links noch mit Rechts und schon gar nicht mit den neureichen Parvenus. Er drehte nicht einen Werbespot und kein einziges Musikvideo. Die Konsequenz war bittere Armut, doch das schien ihn nicht zu kümmern, zumindest war das nie ein Thema. Er beobachtete - teils besorgt, teils amüsiert - die Entwicklung, die Freunde. Einst unzertrennlich, hatten sich viele an den politischen Fronten zerstritten, redeten nicht miteinander. Es fiel ihm schwer, sich unter den neuen Bedingungen des Filmemachens zurechzufinden, er konnte sich nicht überwinden, den entwürdigenden Gang zu neureichen Mafiosi oder inzwischen aufgetauchten ausländischen Kleinproduzenten anzutreten; vielleicht war auch die Filmidee noch nicht geboren, die ein solches Opfer gerechtfertigt hätte. Eine Retrospektive im Berliner Kino Arsenal , eine weitere in Italien brachten Trost und Hoffnung - vielleicht war alles doch nicht umsonst.
Irgendwann kam dann die Idee für den letzten Film. Es sollte ein großer Film werden, unter professionellen Bedingungen gemacht. Das verlangt ein entsprechendes Budget. Edi kämpft um die Finanzierung, doch es will und will nicht gelingen. Das Budget läßt sich andererseits ohne Qualitätsverlust nicht beliebig reduzieren. Edi wartet. In der Zwischenzeit dreht er ohne Budget - nach über zwanzig Jahren - wieder einen (semi)dokumentarischen Film. Itzko Fintzi, der einzige Schauspieler in diesem Film, wird in ein (authentisches) Altersheim eingewiesen. Er lebt dort zusammen mit - ebenfalls authentischen - Heimbewohnern, die in ihrer Arglosigkeit die Inszenierung nicht vermuten. Die Kamera beobachtet dokumentarisch den Heimalltag. (Es gibt eine schöne Szene, in der ein Heimbewohner die verblüffende Ähnlichkeit zwischen dem neuen Insassen und dem berühmten Schauspieler Itzhak Fintzi feststellt.) Möglich, daß dieser Film ursprünglich als Studie für den späteren großen Film gedacht war, in dem es ja auch eine wichtige Episode im Altersheim gibt. Doch dann muß Edi bemerkt haben, wie stark das Material geworden ist und hat einen (fiktiven) Schluß gedreht. Den Film zu schneiden hat er nicht mehr geschafft.
Edi hatte erst wenig mehr als die Hälfte des ursprünglich kalkulierten Etats zusammen, als er sich plötzlich entschloß, mit den Dreharbeiten zu beginnen. Heute wissen wir weshalb. Er hatte über seine Krankheit mit niemandem gesprochen. Auch von der ersten Therapie hat niemand etwas erfahren. Plötzlich hatte er es sehr eilig. Schnell, schnell, es war keine Zeit mehr für Details, für Nebensächlichkeiten. Der Film mußte fertig werden. Die Dreharbeiten, der Rohschnitt, und dann verließ ihn die Kraft. Er konnte nicht mehr aufstehen.
Der Schweizer Gemüsesaft hat also kein Wunder bewirkt. Wenige Wochen nach jenem Anruf war Edi tot. Seine Anweisungen für den Feinschnitt und Vertonung hat er gegeben, doch den fertigen Film hat er nicht mehr gesehen.
Ende November war ich für wenige Tage in Sofia. Edis Sohn und eine Freundin wollten mich zu Edis Grab führen. Wir fuhren mit dem Taxi durch die graue verdreckte Stadt. Es hatte geregnet. Die Straßen - verschlammt und kaputt.
Endlich waren wir da und betraten den verwahrlosten Friedhof. So weit das Auge reichte, lag zwischen den Gräbern Abfall verstreut - Essensreste, Plastiktüten, Flaschen, umgekippte Mülltonnen. Von streunenden Hunden begleitet, irrten wir eine Stunde und mehr über den Friedhof auf der Suche nach dem Grab. Und dann, ich dachte schon, wir finden ihn nie, war er plötzlich da: eine kleine Holzpyramide auf einem Erdhaufen. Ein Namenszug, zwei Jahreszahlen, das war alles. Zwei schrill gekleidete Zigeunerfrauen wühlten in der Nähe in einer Mülltonne. Der kurze Tag ging zu Ende. Es fing an zu dämmern, leichter Nebel kam auf. Der riesige abnehmende Mond war schon aufgegangen und tauchte die unwirkliche Szenerie in milchiges diffuses Licht. Die Hunde kamen näher. Wir machten uns auf den Weg. Überraschend bald kamen wir am großen Friedhofstor an. Wir stiegen in die Straßenbahn. Sie war gut gefüllt mit grauen Menschen mit verfallenen Gesichtern. Kein Blick, kein Lächeln, kein Wort. Der Wagen stöhnte und ächzte über die welligen Schienen und kreischte in den Kurven wie ein verwundetes Tier. In den zwei Wochen meines Sofioter Aufenthaltes waren die Preise für Benzin und Brot um zwanzig Prozent gestiegen. Wie versteinert starrten die Menschen vor sich hin und wackelten hin und her mit dem Gefährt, in dem sie saßen. Ein Wagen voller Zombies.
Zwei Tage zuvor machte mich ein anderer Freund auf eine endlose Menschenschlange aufmerksam. Die allgegenwärtigen grauen ausdruckslosen Gesichter. Die Menschen warteten geduldig darauf, einen Antrag auf Abschaltung ihrer Heizung zu stellen - sie konnten die Heizkosten nicht mehr zahlen. Mein Freund war aufgebracht. Was versteht ihr schon, im Westen, sagte er. Ja, was verstehen wir schon. Ich hatte neulich versucht, meinem kleinen Sohn zu erklären, was Strom- und Wassersperre sei, und was es für eine Millionenstadt bedeutet, wenn es eine Woche lang kein Wasser gibt. Mein Sohn - er badet sehr gern - war beunruhigt und rannte ins Badezimmer. Wir hatten keine Wassersperre. Ob ich mich an eine Wassersperre in Berlin erinnern kann? Nein, eigentlich nicht. Oder doch, ja, einmal, beim Rohrbruch. Wie lange? Vielleicht eine halbe Stunde. Mein Sohn war beruhigt. Der Fall war für ihn erledigt.
Edis Sohn, ein junger Physiker namens Federico, hatte für den nächsten Tag ein Ticket nach New Orleans. Er hatte ein zweijähriges Stipendium bekommen und wollte an der dortigen Universität promovieren. Er hatte es geschafft.
Ich hatte es schon längst geschafft. Mein Flugzeug ging am gleichen Abend. Auf dem Sitz lag eine bulgarische Zeitung. Mir fiel eine Schlagzeile auf: ,Albanien leistet humanitäre Hilfe für Bulgarien'. Mir fiel auch ein Witz ein, den ein anderer Freund mir erzählte. Die neue Losung sei: wer den kommenden Winter überlebt, wird es im Frühjahr bitter bereuen. So gesehen, hat‘s Edi auch geschafft. Er muß die Agonie dieses von Gott und dem Rest der Welt vergessenen Landes nicht mehr miterleben.
Wahrscheinlich kann diesem Land nicht mehr geholfen werden. Wahrscheinlich ist es am besten, man streicht es endgültig aus dem Gedächtnis. Ich jedenfalls hatte mir vorgenommen, diesen Film und seinen Regisseur zu verdrängen, und auch den großen Friedhof, auf dem er liegt.
Gestern rief wieder ein Freund aus Sofia an. Alle Apotheken hätten geschlossen, weil sie mit den galoppierenden Preisen nicht mehr mitkämen, und Medikamente hätte es sowieso keine mehr gegeben. Ob ich ihm eine Packung Aspirin schicken könne, er brauche es so dringend. Na gut, ein letztes Mal. Dann ist Schluß.
(Marin Martschewski, Berlin, im Februar 97)
Eduard Sachariew wurde 1938 in Sofia geboren. 1961 schloß er sein Filmstudium in Budapest ab. Eduard Sachariew starb am 26. Juni 1996. ZAKASNJALO DALNOLUNIE wurde im September fertiggestellt.
1962: Wlak w nebeto (Schienen in den Himmel/Railway in the Sky). 1965: Sol (Salz/Salt). 1966: Ako ne dojde wlak (Wenn kein Zug kommt/If a Train isn't Coming). 1968: Nebeto na weleka (Der Himmel über Weleka/Veleka's Sky). 1970: Stomana (Stahl/Steel). 1971: BDJ (BDZH - Bulgarische Staatseisenbahn/Bulgarian State Railways). 1973: Prebroja waneto na diwite sajzi (Die Zählung der wilden Hasen/Counting of the Hares). 1975: Wilna Zona (Gartenparty/A Cottage Area). 1977: Maschki wremena (Männerzeiten/Time for Men). 1980: Potschti ljubowna istorija (Fast eine Liebesgeschichte/Almost A Love Story). 1982: Elegia (Elegie/Elegy). 1985: Skapa moja, skapi moj (Mein lieber Junge, Mein liebes Mädchen/My Darling Boy, My Darling Girl). 1991: Reserwat (Reservation/The Reserve). 1996: ZAKASNJALO PALNOLUNIE.
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