(Wie Engel geboren werden) Brasilien 1996 Regie: Murilo Salles |
97 min., 35mm, 1:1.85, Farbe
Produktion: Empório de Cinema/RioFilme, Murilo Salles, Clßudio Kahns, Rômulo Marinho jr. Buch: Murilo Salles, Jorge Durßn, Agnaldo Silva, Nelson Nadotti. Kamera: César Charlone. Musik: Victor Biglione. Ausstattung: Marlise Storchi. Schnitt: Isabelle Rathery, Vicente Kubrusly. Ton: Mark A. van der Willigen. Darsteller: Larry Pine, Priscila Assum, Silvio Guindane, Ryan Massey, André Mattos, Maria Silvia. Uraufführung: 20. August 1996, Festival von Gramado/Brasilien. Weltvertrieb: Empório de Cinema. Av. Ataulfo de Paiva 1251/ 304, Rio de Janeiro/Brasilien. Tel. (55-21) 512 20 98, Fax; (55-21) 239 36 30. |
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So 16.02. 18:45 Kino 7 im Zoo Palast Mi 19.02. 11:00 Delphi Sa 22.02. 15:00 Babylon |
Unerwartet gelangt das Trio aus der Favela doch in das Haus, in dem der Nordamerikaner mit seiner Tochter Julie und der Hausangestellten Conceição lebt. Dort werden die sechs Figuren zu Geiseln einer seltsamen Situation, einer Mischung aus Ulk und Bedrohung, die ein überraschendes Ende findet.
Frage: Wie entstand die Idee zu Como Nascem os Anjos?
Murilo Salles: Dieser Film entstand aus meinem Unbehagen am Leben mit dem Elend: auf die Straße zu gehen und hungrige Kinder zu treffen, die an der Ampel um Almosen betteln. Aber ich wollte keinen Film über Straßenkinder drehen, weil das opportunistisch gewesen wäre und nur eine Reaktion auf das weltweite Interesse an dieser Frage. Ich mußte also das Thema von einer anderen Seite angehen und eine andere Form finden. Ich erinnerte mich an andere Beiträge der jüngeren brasilianischen Filmgeschichte: angefangen bei Cinco Vezes Favela (Fünfmal Favela), einem Film, der am Anfang des Cinema Novo der sechziger Jahre steht, über Rio Zona Norte (Rio Nordbezirk) von Nelson Pereira dos Santos und O Anjo Nasceu (Der Engel ist geboren) von Júlio Bressane bis hin zu Pixote (Asphalthaie) von Hector Babenco. Vor allem der Film von Bressane wurde für meine weitere Arbeit wichtig, denn er handelt von zwei Banditen, die auf der Flucht vor der Polizei schließlich in ein Haus eindringen und die Hausbesitzerin und deren Angestellte gefangennehmen. Ich habe diese Struktur aufgegriffen und dann begonnen, andere Figuren und eine andere Geschichte zu entwickeln.
Frage: Der Film beschäftigt sich mit dem Elend und unterscheidet sich deshalb vom normalen brasilianischen Film.
Murilo Salles: Nicht durch sozialen Druck, sondern zufällig ergibt sich der Konflikt in COMO NASCEM OS ANJOS. Die Idee der sozialen Determiniertheit, deren Fehlen in meinem Film von der linken Filmkritik bemängelt wurde, zieht sich durch die Filmgeschichte Brasiliens: sie ist zu einem Gemeinplatz geworden. Ich ertrage keinen ernsthaften Film über das Elend mehr, der in Gestalt einer soziologischen Abhandlung daherkommt. Wenn man humoristische Elemente in das Elend hineinbringt, tritt die emotionale Seite stärker hervor. Ich habe bei Buñuel gelernt, daß man kein Mitleid mit der Figur haben darf. Das brasilianische Kino geht gewöhnlich davon aus, daß alle, die Darsteller und selbst die Regisseure, ganz arm dran sind. Ich glaube, daß die Diskussion ,Kolonisierter versus Kolonisator' zuende ist. Wir sind schließlich kolonisiert! Wenn etwas Neues entstehen soll, dann nur, wenn man dies als Tatsache begreift.
Frage: Wollen Sie das in der Szene zum Ausdruck bringen, in der der Junge aus der Favela sich mit der reichen Nordamerikanerin identifiziert, als er eine CD mit Rapmusik in ihrem Zimmer findet?
Murilo Salles: Ja. Die Rache der Favela wird eine kulturelle sein. Heute hören die Töchter der Mittelklasse die Funk-Musik vom Elendshügel. Die Tochter eines Freundes von mir ist mit einem Typ aus der Favela zusammen, den sie auf einer Funkparty kennengelernt hat. Gleichzeitig gibt es in den Favelas viele Parabol-Antennen, die Jugendlichen sehen sich MTV und die Basketballspiele der NBA im Fernsehen an; dadurch entsteht eine Identifikation mit den Schwarzen in Nordamerika, die dort eine soziale Nische gefunden haben, die es in unserer Gesellschaft für sie nicht gibt.
Frage: Aber diese Verbindung verhindert nicht, daß der Konflikt weiterbesteht.
Murilo Salles: COMO NASCEM OS ANJOS ist in erster Linie ein Film über die Kommunikationslosigkeit. Wie die Beziehung zwischen Weißen und Indios. Gegenseitiger Respekt ist das Größte, was es geben kann, aber zu glauben, man könne den Indio zivilisieren, ohne seine Kultur zu zerstören, ist lächerlich. Es gibt keinen Dialog zwischen den sozialen Klassen. Die einzige Möglichkeit zum Dialog ist Herrschaft. Es gibt nur herrschen oder beherrscht zu werden. Dazwischen gibt es nichts. Es gibt keine Verständigung...!
Frage: Viele Filme des berühmten Neuen Brasilianischen Kinos sind für den ausländischen Markt konzipiert und arbeiten mit ausländischen Schauspielern als Publikumsmagneten. Ist das auch bei Ihren beiden nordamerikanischen Darstellern der Fall?
Murilo Salles: Nein. Wenn die Hausbesitzer Brasilianer wären, würden wir eine grundlegende Komponente verlieren: die Fremdheit zwischen beiden Seiten, die eine unschuldigere, vorsichtigere Beziehung und zugleich eine ungeheuere Schwierigkeit für den Dialog mit sich bringt. Der Film wäre schroffer, sogar gewalttätig. Außerdem habe ich einen US-amerikanischen Schauspieler gewählt, der portugiesisch sprechen sollte. Ich gehe gegen die Tendenz an, Brasilianer einzusetzen, die mit nordamerikanischen Darstellern englisch reden. Wie die gesamte Besetzung ist Larry Pine ein ausgezeichneter Schauspieler und ein sehr mutiger Mann, der eine Rolle in einer völlig fremden Sprache angenommen hat; beim ausländischen Kinopublikum ist er nicht sehr bekannt. Ryan Massey ist Debüt-Schauspielerin. Es gab keine Marketingstrategie, sondern nur die Erfordernisse der Geschichte.
Murilo Salles wurde 1950 in Rio de Janeiro geboren. Ab 1970 arbeitete er zunächst als Kameramann, u.a. für Lição de Amor (1975) von Eduardo Escorel, Dona Flor e Seus Dois Maridos (1976) von Bruno Barreto, Eu Te Amo (1980) von Arnaldo Jabor.
Unter seiner Regie entstanden die Dokumentarfilme Estas São as Armas (1978) über Moçambique und Two Billion Hearts (1994) über die Fußball-Weltmeisterschaft sowie die Spielfilme Nunca Fomos Tão Felizes (1984), Faca de Dois Gumes (1990) und Como Nascem os Anjos (1996).
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