Deutschland / Israel 1997 Regie: Ulrike Ottinger |
275 min., 16mm, 1:1.37, Farbe, WP
Produktion: Ulrike Ottinger Filmproduktion in Zusammenarbeit mit Transfax Film Productions, Marek Rozenbaum, Tel Aviv. Buch, Kamera: Ulrike Ottinger. Musik: Originalmusik der 20er und 30er Jahre aus der Sammlung Raymond Wolff. Team San Francisco - Produktions-/Aufnahmeleitung: Erica Marcus. Ton: Sara Chin. Kamera-Assistenz: Caitlin Manning. Team Shanghai - Recherche: Katharina Sykora. Kamera-Assistenz: Bernd Balaschus. bersetzer: Ting I Li. Team des Shanghai-Filmstudios: Bao Qicheng, Catherine Fu, David Su, Benny Zhu, Chen Yong, Shao Zhiyu, Xu Chengshi, Ni Zheng, Xu Xiushan, Yi Akou. Team Israel - Rostrum Kamera: Yossi Zicherman. Produktionsleitung: Uzi Cohen. Aufnahmeleitung: Madeleine Ali. Team Berlin - Produktionsleitung: Ulrich Ströhle. Vertonung: Bettina Böhler. Tonmischung: Hartmut Eichgrün. Die Interviewten: Rena Krasno (Mountain View, Kalifornien, November 1995), Rabbi Theodore Alexander und Gertrude Alexander (Danville, Kalifornien, November 1995), Inna Mink (Kentfield, Kalifornien, November 1995), Georges Spunt 1923-1996 (San Francisco, November 1995), Geoffrey Heller (Berkeley, Kalifornien, Dezember 1995). Uraufführung: 18.2.97, Internationales Forum des jungen Films. Weltvertrieb: Ulrike Ottinger Filmproduktion, Hasenheide 92, D-10967 Berlin. Tel.: (49-30) 692 9394. Fax: (49-30) 691 3330. Transfax Film Productions, Marek Rozenbaum, 7 Aharonson Street, 68102 Tel Aviv, Israel. Tel.: (97-23) 516 2746. Fax: (97-23) 516 2744. Mit Unterstützung der Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg, der Filmförderungsanstalt Berlin, The New Foundation For Cinema & Television Tel Aviv, dem Israeli Film Center, dem Ministry of Industry and Trade, Tel Aviv. |
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Di 18.02. 11:00 Kino 7 im Zoo Palast Di 18.02. 14:00 Delphi Mi 19.02. 20:00 Arsenal Do 20.02. 17:00 Akademie der Künste |
Sissi Tax: Ulrike, wie war Shanghai und was war Shanghai Ende der dreißiger, Anfang der vierziger Jahre?
Ulrike Ottinger: Shanghai war damals ein völlig artifizielles Gebilde. Es war exterritorial. Und tatsächlich waren alle, die irgendwie in diese Zeit des Zweiten Weltkrieges involviert waren und auch in der Zeit davor politische Macht hatten, an diesem Ort: die Briten waren da, die Amerikaner waren da, die Franzosen waren da - und selbstverständlich nicht nur die DeGaullisten, sondern auch die Pétainisten, es gab die Avenue Pétain, es gab die Pharmacie Pétain -, die Deutschen waren da - darunter viele Nazis - und die Italiener. Shanghai war eine Handelskonzession. Jede Nation hatte sich ihr Stück vom Kuchen abgeschnitten, und jede hatte ihre eigene Polizei und ihre eigene Gerichtsbarkeit.
Dann gab es natürlich die Chinesen, die sehr unterschiedliche politische Ansichten hatten: Es gab die Kommunisten, die Nationalisten, die Anhänger Tschiang Kai-tscheks waren, und natürlich noch eine Menge anderer Leute, die verschiedenen Reformbewegungen anhingen. Es war die Zeit des ausgehenden Kolonialismus.
Auch viele Japaner lebten in Shanghai, zunächst als Geschäftsleute, später als Eroberer. Sephardische Juden gab es in der Stadt schon seit mehr als hundert Jahren. Sie waren Teil der kolonialen Welt. Die Russen, die Weißrussen, aber natürlich auch die russischen Juden, die auf der Flucht vor Pogromen schon sehr viel früher nach Shanghai gekommen waren, repräsentierten in der Regel den ärmeren Teil der spätkolonialen Gesellschaft. Nirgendwo auf der Welt waren so widersprüchliche Gesellschaftsgruppen und Interessen konzentriert wie in Shanghai. Shanghai selbst war eine Mise-en-scène.
S.T.: Wie haben die jüdischen Emigranten verschiedenster Ausprägung in diesem Stadtkonglomerat gelebt, was haben sie mitgebracht, und wie sind sie mit dem dort Vorgefundenen umgegangen?
U.O: Als die jüdischen Emigranten aus Deutschland und Österreich ankamen, hatten sie nur zehn Reichsmark in der Tasche, mehr war nicht erlaubt. Schmuck und Wertgegenstände mußten sie vor ihrer Ausreise abgeben. Wenn sie nicht irgendwelche Verwandten hatten, die Geld aus dem Ausland schickten, waren sie auf fremde Hilfe angewiesen und kamen in den armen Stadtteil Hongkew. Andere, die noch ein bißchen Geld hatten - beispielsweise die Alexanders, deren resolute Mama sich getraut hatte, ein paar Aktien einzuschmuggeln - konnten in der 'French Concession' oder im 'International Settlement' wohnen, wo sie versuchten, ihre Geschäfte neu aufzubauen. Interessant ist auch, daß Inserate in den Zeitungen aus dieser Zeit sich alle auf die Orte beziehen, aus denen die Emigranten kamen. Beispielsweise hat Herr Heinemann seine neu eröffnete 'Western Art Gallery' in der vornehmen Avenue Joffre mit 'Vormals Buchhandlung Olivaer Platz Berlin' ausgewiesen. Es gibt ein ganzes Emigranten-Adreßbuch, 1939 erschienen, in dem man ein Branchenregister findet; gleich zuoberst steht: 'Brot, Kuchen, Pralinen, Spezialität: deutsches Schwarzbrot'.
Shanghai ist die einzige Stadt in China, in der ich Bäckereien gesehen habe. Interessanterweise gelten heute viele dieser Bäckereien als typisch chinesisch. Das hängt u.a. damit zusammen, daß die Chinesen über ihre eigene Geschichte fast nichts wissen. Das Monopol, diese Geschichte zu interpretieren, hat nur die Partei. Originalquellen sind nicht zugänglich.
S.T.: Du hast von den Zeitungen und den Zeitschriften gesprochen. Da gab es eine 'Gelbe Post', herausgegeben von einem Herrn Storfer.
U.O.: Herr Storfer ist eine faszinierende Persönlichkeit. Er war Leiter des psychoanalytischen Verlages in Wien, der die Freudschen Schriften herausgebracht hat. Er ist nach dem 'Anschluß' emigriert. Später gründete er dann in Shanghai eine Zeitung, 'Die gelbe Post - Ostasiatische Illustrierte, Halbmonatsschrift'. Ich lese einmal etwas von der ersten Seite. Fast mit expressionistischem Impetus steht hier: "Hundert Aufsätze und hundertfünfzig Abbildungen über Einrichtungen, Vorgänge, Sitten, Gebräuche, einzelne Persönlichkeiten und allgemeine Typen", und dann in Klammern: "Staatsmänner und Generäle, Revolutionäre und Spieler, Boys, Kulis und Bettler, Dichter und Freudenmädchen." Es war ein sehr ungewöhnliches Blatt mit einer sehr ungewöhnlichen Themenmischung: ein Essay von Freud über den Judenhaß in Europa, dann einer über die Psychoanalyse in Japan, dann ein Artikel über die Juden von Kai-Feng, einer ganz frühen jüdischen Siedlung in China. Außerdem gibt es Texte von Ärzten, ganz pragmatische Sachen, z.B. darüber, wann Choleraimpfungen stattfinden sollen; oder ein wunderbarer Text: 'Bummel durch ein chinesisches Warenhaus', das KaDeO (Kaufhaus des Ostens, angelehnt an das Berliner KaDeWe, A.d.R.). ber Kino wird ausführlich geschrieben, besonders natürlich über chinesische Filme. Chinesische Geschichte. Auch eine Art Einführung in die chinesische Kultur - was in der kolonialen Welt überhaupt nicht üblich war, das war etwas Neues. Beiträge über die chinesische Schrift: 'Die vier Schätze der Schreibstube'. Dann gibt es Photoreportagen wie damals in Berliner Magazinen, eine Reportage über Bettler, 'Bettler wählen ihren König', ein Bildbericht über Straßentypen in Shanghai - auch so eine Reportage, wie man sie im Berlin der zwanziger und dreißiger Jahre gemacht hätte. Storfer selbst hat sehr viele Artikel für die Zeitung geschrieben. Er war Sprachforscher. Er hat einige Bücher herausgegeben und wohl aus Wien Exemplare mitgebracht, für die er warb und die er auch verkaufte: 'Wörter und ihre Schicksale' und 'Im Dickicht der Sprache'.
Herr Storfer hat sich sehr darum bemüht, daß diese Zeitung über die Grenzen Chinas hinaus bekannt wurde. Hier steht zum Beispiel auch der Preis der Zeitung in Amerika, in Großbritannien, in der Schweiz. In dem Text 'Hut ab vor dem Kuli' beschreibt Storfer, wie er völlig deprimiert in China ankam und trotzdem so fasziniert war von dem ersten Anblick, der sich ihm dort bot, nämlich dem von schwer beladenen Kulis. Diese Haltung Storfers hat, wie ich glaube, sehr viel mit der Machart des Films zu tun. Ich habe versucht, diese ganz unterschiedlichen, sich widersprechenden Dinge, von denen Shanghai voll ist, im Film zusammenzubringen. Es ging mir darum, für das, was die Menschen mir von damals erzählt haben, Entsprechungen und Bilder im heutigen Shanghai zu finden, das sich zur Zeit in einem unglaublichen Umbruch befindet. Shanghai war immer eine Nahtstelle: zwischen dem alten China und dem neuen China; zugleich war es der Ort, an dem China auf das Ausland traf. (...)
S.T.: Ein mythen-und legendenträchtiger Ort. Und Dein Film versucht, die Geschichte und die Gegenwart als etwas Ineinanderverwobenes sichtbar werden zu lassen.
U.O.: Auf eine Art haben die Emigranten in diese verrückte Szenerie gepaßt, aber gleichzeitig standen sie auch völlig quer dazu. Natürlich kamen auch die Emigranten mit der europäischen Legende vom 'Sündenbabel Shanghai' im Kopf an. Diese Vorstellung wurde bestätigt und gleichzeitig widerlegt. Storfer beschreibt das folgendermaßen: "Die Bankpaläste mit ihren wuchtigen Säulen und die Apartmenthäuser, die in die Wolken ragen, die von vielfarbigen Lichtreklamen vibrierenden Straßen und grün eingebetteten Villen in angedeutetem Pagodenstil, von Kunden wimmelnde Kaufhäuser und imponierende chinesische Buch- und Zeitschriftenläden, die lampiongeschmückten Gaststätten, in deren Fenstern goldbraun gebratene Enten in langen, dichten Reihen hängen und die spiegelgleich blinkenden Tanzflächen mit Hunderten von 'schlitzäugigen' Taxigirls in bunter Seide, das Alles und vieles Andere, wert, gesehen und aufgenommen zu werden, kann nicht das erste Bild vom Streifen unseres seelischen Aufnahmeapparates zum Verblassen bringen: das Bild der Kulis, die schweißtriefend riesige Lasten auf dem Rücken tragen."
S.T.: Welche Sprache haben die Emigranten gesprochen?
U.O.: Die meisten sprachen Deutsch; wenn sie im Business waren, mußten sie Englisch lernen. Es wurden sehr viele Sprachen gleichzeitig gesprochen. Es gab das 'Pidgin English'. In der 'Gelben Post' wurde diskutiert, ob 'Pidgin English' ein Schulfach werden sollte. Diese Sprache war der kleinste gemeinsame Nenner, mit dem die Ausländer mit den Chinesen kommunizieren konnten.
Man muß sich einmal vorstellen, daß die Menschen aus Wien, Frankfurt, Berlin oder Breslau, denen die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt worden war, dort ankamen und genau das machten, was als typisch wienerisch, frankfurterisch oder berlinerisch gilt: Sie stellten die Spezialitäten aus ihrer Heimat her - das ist etwas ganz Unglaubliches. Sie lebten, inmitten dieses chinesischen Viertels in Hinterhöfen, in winzigen Zimmern ohne Wasser, ohne Toiletten, kurz: unter für Europäer ungewohnten und sehr schwierigen Bedingungen. Und nach einiger Zeit hatten sie ihre neue Umgebung wieder in eine kleine europäische Stadt verwandelt. Auf einem alten Photo kann man heute noch die Werbung in einem Schaufenster sehen: 'Zum Würstel Tenor', 'Spezialität: Knack im Frack'. Ich habe aber auch von Familien gehört, die in Deutschland gutbürgerlich gelebt, aber in Shanghai ihr Leben völlig verändert haben. Für viele Emigranten bedeutete die neue Situation eine völlige Desorientierung; alte Beziehungsgeflechte brachen zusammen, Werte, die im alten Europa Gültigkeit gehabt hatten, verflüchtigten sich hier.
S.T.: Welche Bedeutung hatte Shanghai in den späten dreißiger Jahren als einer der letzten Fluchtpunkte der Emigration?
U.O.: Shanghai war im Grunde genommen der allerletzte Ort, an den man sich ohne Visum, ohne Bürgschaft, ohne Bezahlung einer großen Summe - d.h. eines Affidavit, wie es Amerika verlangte - begeben konnte. Aber selbst das war nicht einfach, weil es an Schiffspassagen fehlte, um aus Deutschland herauszukommen. Nach Shanghai gelangte man hauptsächlich auf zwei Wegen: dem Schiffsweg, der anfangs noch durch den Suez-Kanal und während des Krieges, als dieser geschlossen wurde, um Afrika herum verlief - was die Dauer der Reise dann plötzlich von drei auf zwölf Wochen verlängerte. Der zweite Weg war der mit der transsibirischen Eisenbahn, was allerdings nicht sehr lange möglich war. Herrn Hellers Eltern zum Beispiel sind sehr spät, 1940, mit der Transsibirischen über Rußland nach Japan gekommen. Er bezeichnet das Gelingen dieses Unternehmens fast als ein Wunder.
S.T.: EXIL SHANGHAI ist kein Spielfilm wie The Lady from Shanghai oder Shanghai Express. Er setzt sich aus verschiedenen Materialien zusammen.
U.O.: Grundlage des Films waren die Interviews. Mit ihnen habe ich die Arbeit begonnen, und zwar in San Francisco. Dorthin sind viele Shanghaier Juden weiteremigriert. Ich kommentiere den Film nicht, aber die verschiedenen Standpunkte der einzelnen Interviewten liefern ein sehr genaues und komplexes Bild. Die Russen, die ich interviewt habe, von denen manche schon in die koloniale Welt hineingeboren worden waren und dort teilweise in großem Reichtum lebten, haben natürlich einen ganz anderen Blick auf die Stadt als die deutschen und österreichischen Emigranten, die viel später eintrafen und meist in großer Armut lebten. Sechs verschiedene Blicke und Erfahrungen kommen zusammen: Rena Krasno, die aus einer russischen Familie stammt; ihr Vater war Verleger, Herausgeber einer Zeitung, Schriftsteller und Journalist. Die Familie mußte aufgrund des niedrigen Einkommens des Vaters eher bescheiden leben. Im Kontrast dazu stehen die russisch-stämmigen Familien von Georges Spunt und Inna Mink, die sehr wohlhabend waren. Aber dann kamen die deutschen und österreichischen Juden, und etwas ganz Neues geschah: Sie brachten nicht nur europäisches Flair mit, sondern zum Teil eine andere Haltung den Chinesen gegenüber. Als beispielsweise 1945 die Amerikaner Bomben auf das Ghetto warfen, in dem Chinesen und Juden auf engstem Raum zusammenlebten, behandelten die jüdischen Ärzte auch die chinesischen Verwundeten. So etwas hatte es in der kolonialen Zeit nicht gegeben.
Zuerst habe ich die alten Orte aufgesucht. Ich habe eine alte Karte von Shanghai gekauft, auf der die Straßen je nach den Settlements französische, englische und auch chinesische Namen hatten. Dann kaufte ich eine Karte mit den Straßennamen von heute und stellte fest, daß die Hausnummern identisch geblieben sind. So konnte ich nachvollziehen, wo 'Zum weißen Rössel' gewesen war und wo das 'Eldorado Café', wo die Leihbücherei Nathan und wo der Zigarrenladen Weinberg. Und dann gab es natürlich die 'Heime', das waren Notunterkünfte, wo die ärmeren Emigranten untergebracht wurden.
Die Interviewten haben alle wunderbare Privatarchive mit Photos und Zeitungen. Ich habe aber auch in Shanghai mit Leuten gesprochen, die sich an die damalige Zeit erinnern. Beispielsweise habe ich ein Interview mit den Betreibern der ehemaligen Wäscherei 'Schneeweiß' geführt, die noch von dem früheren jüdischen Besitzer, von denen sie den Laden übernommen hatten, erzählen konnten. Leider zeigten sich bei diesem Erinnern oft auch Gedächtnislücken.
Das Mosaik von Gestern und Heute, Europa und Asien spiegelt sich auch auf der Musik- und Tonebene. All die Lieder, die wir als typisch wienerisch betrachten - also beispielsweise 'Sag beim Abschied leise Servus' oder auch der bekannte Berliner 'Sportpalastwalzer' - sind von jüdischen Komponisten und
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