(Fiktion) Indien 1996 Regie: Malay Bhattacharya |
105 min., 35mm, 1:1.85, Farbe, EP
Produktion: Movie Mill. Buch: Malay Bhattacharya. Script Consultant: Shyamal Sengupta. Kamera: Sunny Joseph. Ton: Chinmoy Nath. Musik: Debajyoti Mishra. Schnitt: Arghya Kamal Mitra. Produzenten: Malay Bhattacharya, Chandramala Bhattacharya. Darsteller: Dhritiman Chatterjee (Rajat), Debesh Roy Chowdhury (Taxifahrer), Debashish Goswami (Schildermaler), Rabi Gosh, Neelkantha Sengupta, Suranjana Dasgupta, Anuradha Ghatak. Uraufführung: 13.8.1996, Neu Delhi. Weltvertrieb: Movie Mill, 6/1 Lindsay Street, 1st Floor, Calcutta 700087, Indien. Tel.: (91-33) 249 7081 od. (91-33) 249 0650, Fax: (91-33) 228 58 55. |
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So 16.02. 12:00 Akademie der Künste Di 18.02. 16:00 Kino 7 im Zoo Palast Di 18.02. 19:00 Delphi Mi 19.02. 10:00 Arsenal |
Die Reise geht weiter durch einen unbekannten Wald und endet plötzlich vor einem verfallenen Haus. Hier trifft das Trio Tarak Das, den eigensinnigen Hausmeister, der fest daran glaubt, eines Tages den hoffnungslosen Zustand seines spastischen Kindes heilen zu können. Währenddessen verschlechtert sich der Zustand des entführten Kindes. Vor lauter Besorgnis und Angst wird die Verwirrung immer größer. Rajat sondert sich von der Gruppe ab und geht auf den nahegelegenen Markt. Dort ist er gerührt von dem beständigen Kreislauf der verschiedenen menschlichen Tätigkeiten. Er beschließt umzukehren. Unglücklicherweise stirbt das Kind auf dem Rückweg. Rajat beschließt, Selbstmord zu begehen.
An diesem Punkt nimmt das Geschehen eine Wendung. Neela, eine enge Freundin von Rajat, wird verhört. Es stellt sich heraus, daß das halbverbrannte Photo von Rajat als Kind, das er vorher von dem Fremden bekommen hatte, dem des entführten Kindes ähnelt.
Allmählich wird klar, daß das entführte Kind Rajat selbst ist. Auch Rajats Begleiter bleiben nicht länger real. Aber Rajats Reise durch das alltägliche Labyrinth von Phantasie und Realität geht weiter. Wie durch sich selbst hypnotisiert, sieht er keinen Ausweg aus diesem Abenteuer.
Das Problem bei vielen großen Filmemachern ist, daß ihnen die Zuschauer egal sind. Sie nehmen ihre Arbeit so ernst, daß sie zu keinem Kompromiß bereit sind. Das Ergebnis? Der Künstler ist stolz auf sein Werk, und das Publikum ist verwirrt.
Ein Mann, der Filme von ästhetischem Wert machte, die aber auch den Durchschnittszuschauer in ihren Bann zogen, war Ritwick Ghatak. Kein anderer indischer Filmregisseur war in solchem Ausmaß erfolgreich sowohl bei der Kritik wie beim ganz normalen Publikum. Jetzt, vierzig Jahre später, hat der Regisseur von Komal Gandhar (1961) und Suvarna Rekha (1966) einen würdigen Nachfolger.
Malay Bhattacharya, 48, hat in seinen Film KAHINI viel Kraft und etwa fünf Jahre seines Lebens investiert. Der Film passierte letztes Jahr die Zensur und wurde im Februar vor kleinem Publikum in Kalkutta gezeigt. (...)
Mit jeder Szene nimmt der Film den Zuschauer mehr gefangen. Die Verbindungen zwischen den Szenen sind alles andere als klar; trotzdem ist es unmöglich, die Augen auch nur eine Sekunde von der Leinwand abzuwenden. Darin liegt die ungewöhnliche Stärke Malays, des Regisseurs: der Zuschauer bekommt zum ersten Mal Gelegenheit, das Puzzle selbst zusammenzusetzen, vielleicht etwas Fehlendes hinzuzufügen und am Ende eine Geschichte gefunden zu haben.
Die Handlung überschreitet die Grenzen von Zeit und Raum - Ereignisse aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden gleichzeitig erzählt. Das klingt nach einem komplizierten Unternehmen, aber er hat tatkräftige Unterstützung durch den preisgekrönten Kameramann Sunny Joseph, 35, der schon in Filmen wie Piravi und Vasthuhara mitgewirkt hatte, und durch den Cutter Arghya Kamal Mitra. Der Film ist in Farbe gedreht, aber der Regisseur hatte sich für die Darstellung der harten, jeglicher Phantasie beraubten Realitäten des städtischen Lebens eigentlich Schwarzweiß gewünscht.
Für Malay, einen Graphikdesigner, ist mit KAHINI ein Traum wahrgeworden. Schon als Teenager hatte er die Hoffnung, eines Tages seine eigenen Filme zu machen - auch wenn das ein ziemlich unrealistisches Ziel für einen Jungen war, der aus einer ganz normalen Durchschnittsfamilie in Bengalen stammte. Sein Vater, ein Journalist, hatte die Familie eines schönen Morgens verlassen und war dem Ruf seiner inneren Stimme gefolgt. Malay war zu diesem Zeitpunkt gerade sechs Jahre alt, und seine Mutter mußte ihn und seine beiden Geschwister ganz allein großziehen.
Sein Leben nahm eine entscheidende Wendung, als er ein Studium am Government College of Arts in Kalkutta begann und sich auf Graphikdesign spezialisierte. So erlernte er einen Beruf, der es ihm ermöglichte, nach West-Deutschland zu gehen, wo er nicht nur Geld verdiente, sondern auch das Filmemachen lernte. (...)
Malay weiß, daß kein Verleiher seinen Film, für den er seine sämtlichen Ersparnisse ausgegeben hatte, auch nur anfassen würde. Tatsächlich war er gezwungen, den gesamten Schmuck seiner Frau zu verkaufen, die als Co-Produzentin fungierte, und auch von Freunden Geld zu leihen, um sein Traum-Projekt fertigzustellen. Er ist inzwischen buchstäblich ein armer Mann - allerdings nur, wenn man einen Posten unberücksichtigt läßt: seinen Film KAHINI. Tapash Ganguly, in: The Week, Calcutta, 17. März 1996
Kalkutta: Eine Reihe miteinander verbundener gefilmter Bilder wurden zusammengesetzt, und daraus entstanden ist KAHINI, was soviel heißt wie Fiktion. Wenn es dabei ein Mißverhältnis gibt, so ist es beabsichtigt. Der Regisseur Malay Bhattacharya erzählt keine klassische Geschichte. Er arrangiert vielmehr seine Bilder in einer Weise, die zwar Methode hat, aber nicht unbedingt nur eine. Indem er bewußt vorhersehbare Sequenzen meidet, läßt Bhattacharya verschiedene Optionen offen.
Man könnte den ganzen Film genausogut als einen Exkurs betrachten. Es gibt mehrere Figuren: Rajat Chowdhury spielt die Hauptrolle - nicht nur im Hinblick auf die Häufigkeit seines Auftretens, sondern auch darauf, daß seine Gefühle entscheidend für die Entwicklung der Gefühle der anderen sind. Dabei sind sie niemals in einem Bild vereint. Das macht jede Einstellung so vollständig - und erlaubt ein großes Maß an Flexibilität und die Freiheit, sich in beliebiger Reihenfolge in alle Richtungen zu bewegen. Es muß keinen Anfang und kein Ende geben. Der Film könnte zuende sein und wieder ganz von vorne beginnen.
Dieses Brechen mit dem Genre der konventionell erzählten Geschichte ist in der Tat eine große Leistung von Malay Bhattacharya, der dabei von einem kompetenten Cutter, gelungenen Dialogen und großartiger Musik unterstützt wird. Rajat lernt die beiden anderen Männer, den Schildermaler und den Taxifahrer, nicht kennen, so wie er auch die anderen Figuren des Films nicht kennenlernt. Und doch werden sie alle irgendwie zusammengebracht; sie bleiben Individuen mit getrennter Identität und sind doch Teil der Struktur des Films. Das konstante Unterbrechen und Wiederherstellen paralleler Strukturen machen den Film erfrischend anders als die üblichen Bengali-Filme. Leichte Kost ist er im übrigen nicht, wenn man bedenkt, daß das indische Publikum lange Zeit durch konventionelle Filme eingelullt wurde, die sich üblicherweise auf eine allmähliche Lösung zubewegen. KAHINI dagegen löst nichts, weder Rajats persönliche Ängste noch Gautams Dilemma oder Parimals Frustrationen. Und doch haben sie Gemeinsamkeiten, und wenn es ihre Todesangst und Reue ist. Das wird wiederholt, indem zwei Geschichten gleichzeitg nebeneinander gestellt sind: die eine, rasante Bewegung, und die andere, Sackgasse ohne Hoffnung. (...) Aus: The Asian Age, Calcutta, 17. Februar 1996
Die Frage, die sich natürlich stellt, ist die, wie es zu einem solchen Thema für einen Film kommt. Um Parallelen zu der Zeit politischen Aufruhrs in der Naxaliten-Generation (Anm.?) zu ziehen (der Film bezieht sich recht direkt auf diese Bewegung), die in einiger Hinsicht der Verwirrung heutiger Generationen im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Situation ähnelt. "Nun, nicht ganz", meint Bhattacharya. "Sehen Sie, die wirtschaftliche Lage preßt Ihre Existenz in ein Muster, das ihr paßt. Früher hatte man viel mehr Zeit zur Verfügung, was auch bedeutete, daß sie eine größere Vielfalt von Interessen hatten. Zur Zeit wird man aufgrund von ein paar Zahlen beurteilt: dem Kontostand, der Kreditkartennummer - eine ,neue' Art von numerologischer Existenz. Dadurch wird menschliches Verhalten mit Begriffen kodifiziert und reglementiert, die absolut sind und keinen Spielraum für irgendwelche Uneindeutigkeiten lassen. Deshalb ist es wahrscheinlich, daß jeder Mensch, der sich an diese Situation nicht anpassen kann, in einen Zustand der Frustration gerät, einen Zustand, der ihn dazu bringt, nach seinen Wurzeln zu suchen. Der Film versucht also mehr, die Gegenwart zu analysieren, als eine bewußte Parallele zwischen den beiden Situationen zu ziehen."
Trotzdem schließt Bhattacharya den Umstand nicht aus, daß in einem so offenen Film wie seinem auch Parallelen gesehen werden können, die nicht vom Regisseur beabsichtigt waren.
Bhattacharya räumt ein, daß das Verständnis des Films für manchen Zuschauer ein Problem war. Dann aber fragt er: äIst es denn notwendig, daß der Zuschauer jede Sequenz des Films ,richtig' versteht? Es gab viele Leute, die nach dem Film das Gefühl hatten, Teile davon nicht ganz vestanden zu haben. Das genau haben wir gewollt. (...)
Der Regisseur von KAHINI experimentiert mit der Erzähltechnik. Er hat die elementare Beziehung zwischen dem Film und seinem Zuschauer, nämlich die Kommunikation, zerbrochen. Dadurch wird der Film eine Art Übung in Introspektion.
Wen sieht er denn als den potentiellen Zuschauer von KAHINI? äKAHINI ist nicht zur gewöhnlichen Unterhaltung gemacht, und wir sind uns ziemlich darüber im klaren, daß der Film wohl kein Kassenschlager werden wird. Es ist ein Film, an dem der Zuschauer mitwirken muß, um die kinematographische Erfahrung fruchtbar zu machen."
Plant er für die Zukunft einen Werbefilm? Bhattacharya ist nicht sicher. "Ich frage mich, ob ich imstande sein werde, irgendetwas in dieser Art zu machen", sagt er, "das ist nicht wirklich meine Richtung."
Hatte die Entscheidung, Dhritiman Chatterjee die Rolle des Rajat zu geben, etwas mit seinen bisherigen Auftritten in Filmen von Mrinal Sen und in Satyajit Rays Pratidwandi zu tun?
"Ja. Er hat dieses Leinwandimage, das eine Art von Standardreaktion auslöst, und wir haben versucht, das im Film zu benutzen. Aber auch unabhängig von Dhritiman bilden Standardreaktionen einen wesentlichen Teil der Struktur von KAHINI. Nach der Kindesentführung zum Beispiel gibt es das Bild von dem klingelnden Telefon. Die augenblickliche Assoziation, die sich einstellt, ist ,Lösegeld', obwohl nirgendwo die Rede davon war, daß ein Lösegeld überhaupt gefordert worden ist.
Meint Bhattacharya, daß die Regierung eine wichtigere Rolle bei der Förderung solcher Projekte spielen müßte?
"Sicherlich. Wenn die Anerkennung, die KAHINI erhalten hat, ein paar anderen Regisseuren Mut machen kann, wird das dem Medium nur nützen. Die Herstellung dieses Films war für alle, die damit zu tun hatten und haben, eine bereichernde Erfahrung, wir sind alle irgendwie daran gewachsen. Es war eine große Aufgabe für das Team, zu deren Lösung alle beständig beigetragen haben. Es dauerte Jahre, den Film fertigzustellen, aber wir haben zu keinem Zeitpunkt die ,Opfer' hervorgehoben, die zu bringen waren, weil wir das mit uns selbst ausgemacht haben. Niemand hat uns dazu gezwungen. Und wer hat jemals ein ernsthaftes Kunstwerk geschaffen, ohne das eine oder andere zu opfern?"
Zukunftspläne? "Ich denke an einen Film über Terrorismus und die Mittelklasse. Außerdem habe ich ein Projekt über einen gesellschaftlichen Außenseiter im Kopf - über die Dialektik zwischen Intellekt und Existenz. Die Details müssen noch ausgearbeitet werden." Suman Ghosh, in: The Asian Age, 31. Mai 1996
Malay Bhattacharya wurde 1948 in Howrah geboren, einer Industriestadt in West-Bengalen. 1970 machte er seinen Abschluß an der Faculty of Arts der Universität von Kalkutta und ging anschließend nach Deutschland. In Essen arbeitete er als Werbedesigner, 1976 wurden ebenfalls in Essen Gemälde von ihm ausgestellt. Ein Jahr später kehrte er nach Kalkutta zurück und eröffnete dort ein Graphikstudio. In den folgenden Jahren entstanden mehrere Dokumentarfilme, deren zentrales Thema die schwierigen Lebensbedingungen in den Städten Indiens sind. Daneben schrieb er diverse Drehbücher und drehte bzw. produzierte zahlreiche Fernsehspiele. KAHINI, dessen Fertigstellung fünf Jahre in Anspruch nahm, ist sein erster Spielfilm.
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