(Erinnerung) Italien 1997 Regie: Ruggero Gabbai |
84 min., 35mm, Farbe, WP
Produktion: Forma International, Milano, Centro di Documentazione Ebraica Contemporanea (CDEC), Milano. Buch: Marcello Pezzetti, Liliana Picciotto Fargion. Kamera: Sefi Baruch, Nicol Bongiorno. Musik: Mario Piacentini. Ton: Roberto Serra. Schnitt: Daniele Orsini. Produzent: Elliot Malki. Uraufführung:19.2.1997, Internationales Forum des Jungen Films. Weltvertrieb: Forma International, Via E. Fermi 20, Assago, I-20090 Milano. Tel.: (39-2) 45706100. Fax: (39-2) 45703177. |
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Mi 19.02. 11:00 Kino 7 im Zoo Palast Mi 19.02. 16:30 Delphi Do 20.02. 22:30 Arsenal Fr 21.02. 19:30 Akademie der Künste |
"Ich versuche, stark zu sein. Ich sehe mich wieder nackt, meiner Würde beraubt, meiner Persönlichkeit: all meiner menschlichen Züge. Ich erinnere mich noch ganz genau an alles, ich spüre noch die Stöße der deutschen Gewehre in meinem Rücken."
Das sind die Worte Elisa Springers in MEMORIA, als sie im November 1995 die 'Sauna' des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau wiederbetritt.
Während die Zeugen des Holocaust in der ganzen Welt aussterben, wird eine Tendenz des historischen Revisionismus immer stärker, die darin besteht, das nationalsozialistische Vernichtungsprojekt und die Existenz der Lager zu verharmlosen oder gar zu bestreiten.
Elisa Springer ist nur eine von neunzig berlebenden des Holocaust, die Zeugnis abgelegt haben für das 'Archivio della Memoria' (Gedächtnisarchiv), dem der Film MEMORIA entnommen ist. Vierzig Jahre lang hat sie über ihre Tragödie geschwiegen. Jetzt hat sie sich zum Reden entschlossen, um das Leugnen unmöglich zu machen.
1943 bis 1945: ber 8.500 Juden werden aus Italien und von der Insel Rhodos (die damals zu Italien gehörte) nach Auschwitz und in andere Lager deportiert. Etwa achthundert von ihnen überlebten.
1946 bis 1996: Fünfzig Jahre nach dem Holocaust sind von diesen achthundert noch neunzig in der Lage, Zeugnis abzulegen.
Seit Jahren ist die Stiftung 'Centro di Documentazione Ebraica Contemporanea' (CDEC) wissenschaftlicher Garant für eine historische Rekonstruktion der Wechselfälle jüdischer Zeitgeschichte in Italien und insbesondere des Holocaust.
Die zahlreichen Forschungsprojekte fanden ihren Höhepunkt in der Veröffentlichung der folgenden grundlegenden Texte: 'Il libro della memoria. Gli ebrei deportati dall'Italia (1943-1945)' - Das Buch des Erinnerns. Die aus Italien deportierten Juden (1943-1945) (1991); 'Per ignota destinazione. Gli ebrei sotto il nazismo' - Mit unbekanntem Ziel. Die Juden unter dem Nationalsozialismus (1994); 'Mussolini contro gli ebrei' - Mussolini gegen die Juden (1994).
1993 entstand die Idee, auch ein Ton- und Filmarchiv einzurichten, das aus den Erzählungen der berlebenden bestehen sollte.
Die Entstehung des 'Archivio della Memoria' wurde ermöglicht durch erste massive Unterstützung von seiten privater Sponsoren, des Präsidiums des Ministerrats, der Region Lombardei und des Kultusministeriums.
Der Plan, aus den Dokumenten des 'Archivio della Memoria' einen Film zusammenzustellen, der Wissenschaftler ebenso erreichen sollte wie das breite Publikum, wurde unterstützt von einem Komitee, das ausschließlich zu dem Zweck gebildet worden war, Sonderprojekte des CDEC zu finanzieren. Präsident dieses Komitees ist Elliot Malki, die Vizepräsidenten sind Andrea Jarach und Giorgio Sacerdoti.
Die Mitwirkenden sind die etwa neunzig Zeitzeugen, die noch am Leben und erreichbar sind und zudem imstande, über "das, was geschehen ist", zu sprechen. Einige von ihnen haben es jahrzehntelang vorgezogen, im Verborgenen zu bleiben. Andere, wie Nedo Fiano, Liliana Segre, Goti Bauer und Settimia Spizzichino gehen seit Jahren in die Schulen, um den Jugendlichen über ihre Erfahrungen zu berichten. Ihre Erzählungen versetzen uns unmittelbar in die Tragödie hinein, aber auch mitten in den Alltag - Tod in Auschwitz; einige von ihnen haben die Menschenversuche nationalsozialistischer Ärzte überlebt, andere sind die einzigen Zeugen der grausamen Aktionen der Sonderkommandos.
Menschen, die das Schicksal dazu bestimmt hat, eine der größten Tragödien der jüngsten Geschichte mitzuerleben.
Gesichter, Stimmen, Erfahrungen, die wir in die Zukunft hinüberretten können für die kommenden Generationen, die keine lebenden Zeugen des Holocaust mehr kennen werden.
Die Drehorte sind Orte der Verfolgung in Italien: von den Gefängnissen, in denen die verhafteten Juden festgehalten wurden, bis zu den Straßen und Wohnhäusern der Protagonisten. Die Einzigartigkeit dieses Projektes besteht darin, daß die Protagonisten an den Orten sprechen, an denen sich die Ereignisse abgespielt haben (im jüdischen Viertel von Rom, in den Gefängnissen von Mailand, Rom, Florenz, Triest und Genua, im Lager Risiera di San Sabba, im Durchgangslager Fossoli, im Mailänder Hauptbahnhof etc.).
Eine weitere Besonderheit ist, daß die Zeitzeugen nicht von Journalisten oder Medienspezialisten befragt werden, sondern von wirklichen Geschichtsexperten, die sich im Vorfeld intensiv mit dem Untersuchungsgebiet beschäftigt haben und die Lebensumstände jedes einzelnen der Befragten genau kennen.
So hat sich zwischen den Zeitzeugen und ihren Befragern ein außergewöhnliches Verhältnis der Zusammenarbeit entwickelt - einer Zusammenarbeit, wie sie nie zuvor mit vergleichbarer Gewissenhaftigkeit durchgeführt wurde.
"Von hier aus betrachtet, erlebt man das Lager wirklich noch
einmal als das, was es war, aber die Angst, den Streß, die
Erregung dabei kann man weder filmen noch beschreiben. Das sind
Dinge, die man niemals, auf keinem Bildschirm und in keinem Buch,
wird beschreiben können."
(Settimia Spizzichino beim Betreten des Frauenvernichtungslagers
Auschwitz-Birkenau, Polen, November 1995)
* "Heute, wo ich, Gott sei es gedankt, zehn Enkelkinder habe,
kommt mir wieder das Bild in den Sinn, als ich einen Transport
mit ungefähr zweihundert noch ganz kleinen Mädchen sah,
die ihre Stoffpuppen im Arm trugen und auf dem Weg in die
Verbrennungsöfen waren. Das Feuer der Öfen brannte
länger als zwei Tage."
(Romeo Salmoni auf der Rampe von
Auschwitz-Birkenau, Polen, November 1995)
* "Man kommt nicht nach Auschwitz zurück, um alles für
sich zu behalten als wäre es Privateigentum. Nach Auschwitz
kehrt man zurück, um andere an dieser Erfahrung teilhaben zu
lassen... Es gelingt uns nicht, über die geschenkte Freiheit
wirklich glücklich zu sein."
(Nedo Fiano, Florenz, Oktober 1995)
(...) "Dieser Film ist beinahe Science Fiction; entstanden aus den fragmentarischen Erinnerungen der Betroffenen, wird er bald das einzige sein, was von den Erinnerungen übriggeblieben ist." Liliana Piciotto Fargion, Wissenschaftlerin am Mailänder 'Centro di Documentazione Ebraica', ist eine Expertin in der Geschichte des Holocaust. Sie, die seit Jahren gemeinsam mit anderen nach berlebenden des Naziterrors sucht und sie interviewt, kennt die große Sorge sehr gut, die nicht nur die Juden, sondern all diejenigen plagt, die von der Barbarei umgeben waren: die Panik, die Geschichte könne nach dem Tod ihrer Protagonisten immer mehr verblassen - bis zur vollkommenen Vergessenheit. So entstand die Idee zu diesem Film. Neben Liliana Fargion wirkte auch der Filmwissenschaftler und Spezialist für Filme über den Holocaust, Marcello Pezzetti als Autor mit. (...) Die gemeinsame Arbeit war für alle Beteiligten eine aufwühlende Erfahrung - nicht nur für die fünfundneunzig Zeitzeugen, die dem Aufruf gefolgt waren, bereit, zu erzählen und sich zurückführen zu lassen zu den Schauplätzen der Tragödie. Liliana Fargion erzählt: "Die Arbeit war äußerst schwierig. Wir mußten jahrelang nach den berlebenden suchen, bevor wir ihre Namen ermittelt hatten. Dann schickten wir ihnen Briefe, führten Telefonate, sprachen mit ihren Kindern, um sie davon zu überzeugen, daß wir alles tun würden, um die seelische Unversehrtheit ihrer Eltern zu schützen." Fast alle, die gefragt worden waren, so die Autorin weiter, hätten sich schließlich für diese Reise in die Erinnerung entschieden. "Und mehr noch", fügt sie hinzu, "wir haben die schöne Beobachtung gemacht, daß viele, insbesondere die römischen Juden, ihre ganze Familie dabei haben wollten. Es ist uns passiert, daß wir mit jemandem verabredet waren und dann dreißig Personen bei ihm antrafen - Söhne und Töchter, Cousins und auch die quäkenden kleinen Enkel..." (...)
Der Kameramann Nicol Bongiornio berichtet: "Wir sind zweimal in Auschwitz gewesen, einmal im Winter und einmal im Frühjahr. Einige kamen alleine mit, aber bei den meisten wollten auch die Kinder dabeisein. Uns ist klargeworden, daß diese berlebenden noch immer von maßlosem Schmerz erfüllt sind, besonders aber, daß sich dieser Schmerz auch auf ihre Kinder übertragen hat. Unsere Nachforschungen haben ergeben, daß Selbstmorde unter den aus den KZs Zurückgekehrten nicht sehr häufig waren, daß aber viele ihrer Kinder sich das Leben genommen haben."
(...) Die Initiative des 'Centro di Documentazione Ebraica' ist
nicht die einzige ihrer Art; man ist in der ganzen Welt dabei,
Berichte von berlebenden des Holocaust aufzuzeichnen, bevor es
zu spät ist. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang u.a. die
Spielberg Foundation, die Yale University und das Washingtoner
'Holocaust Memorial Council'; weitere Institutionen existieren
in Frankreich und Belgien. - Es bleibt zu hoffen, daß sich
am Ende nicht nur diejenigen MEMORIA ansehen, die immer schon
gegen Nazismus und Rassenverfolgung gekämpft haben, sondern
auch die, die noch nie etwas davon gehört haben - oder
nichts hören wollten.
(Marina Morpurgo, in: L'Unità, Milano, 5.Oktober 1996)
Ruggero Gabbai studierte Filmwissenschaft und Regie an der Columbia-University. Er ist Autor des Dokumentarfilms The King of Crown Heights über Rebbe Lubavitch und war Schüler und Assistent von Regisseuren wie Milos Forman, Emir Kusturica, Paul Morrisey und Paul Schrader.
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