USA 1996 Regie: Alan Berliner |
60 min., 16mm, 1:1.37, Farbe, EP
Produktion: Cine-Matrix. Kamera: Alan Berliner, Phil Abraham, David. W. Leitner. Schnitt: Alan Berliner. Uraufführung: 8. 10. 1996, New York Film Festival. Weltvertrieb: Jane Balfour Films, Burghley House, 35 Fortress Road, London NW5 1AD, Großbritannien. Tel.: (44-171) 267 5392, Fax: (44-171) 267 4241. |
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Sa 15.02. 14:00 Delphi Sa 15.02. 21:00 Kino 7 im Zoo Palast So 16.02. 20:00 Arsenal Mo 17.02. 12:00 Akademie der Künste |
NOBODY'S BUSINESS - eine Fortsetzung von Alan Berliners letztem Film Intimate Stranger - erforscht die andere Hälfte seiner Vorfahren, die Berliners. Enge und weitläufigere Verwandschaft dient Berliner als eine Art lebendiges Labor, in dem er versucht, die Mysterien von Familiengeschichte, Genealogie und Vererbung zu entschlüsseln. Alan Berliner macht aus dieser privaten und persönlichen Darstellung eine Geschichte mit universeller Resonanz. NOBODY'S BUSINESS wird bei jedem Zuschauer den warmen Schock des Wiedererkennens hervorrufen.
All diejenigen, die Berliners Porträt seines Großvaters, Intimate Stranger, kennen, waren auf die kunstvolle Art vorbereitet, mit der er Familiengeheimnisse erzählt. Diesmal hat er es auf seinen zurückgezogen lebenden, stoischen, bitteren und schweigsamen Vater abgesehen. Die ersten Anstrengungen sind eher komisch, vergleichbar mit dem Versuch, einen Stein zum Sprechen zu bringen. Der Vater weigert sich zu verstehen, warum seine Lebensgeschichte irgendjemanden interessieren sollte.
Unerschütterlich konfrontiert ihn der Filmemacher/Sohn mit einer Vielzahl von Strategien, um ihn zum Sprechen zu bewegen (Ahnenforschung oder bohrende Fragen nach der elterlichen Scheidung). Die Absicht dahinter ist sowohl ästhetischer als auch persönlicher Natur: durch die Verwandlung in eine künstlerisch erzählbare Form die wahre Bedeutung des Leben seines Vaters zu ergründen und ein lange überfälliges ernsthaftes Gespräch mit dem Vater zu führen.
Der Großmut des Regisseurs zeigt sich darin, daß er den ödipalen Kampf gleichzeitig zugibt (zwischendurch werden Boxkämpfe eingeblendet) und durcharbeitet: dieser Sohn will seinen Vater weniger ,erschlagen' als ihn zu einigen weiteren Runden animieren. Was zuerst wie ein einseitiger Kampf aussieht (Wortkünstler in der Blüte seines Lebens gegen alten Mann, dessen Tage gezählt sind), erzeugt eine außerordentliche, paradoxe Sympathie für den schwierigen alten Mann.
Die Dritte im Bunde ist Lynn, die Schwester des Filmemachers, die jedes Familienmitglied liebevoll analysiert und erklärt, daß ihr Vater die Fähigkeit zu lieben verloren hat. Auf wundersame Weise stellt sich ihr Urteil als falsch heraus, als man gegen Ende des Films sieht, wie ihr Vater sein Enkelkind verwöhnt.
Ich kenne niemanden, der persönliche Filme macht und sich so gut wie Alan Berliner darauf versteht, die furchtbaren Qualen, die Ambivalenz und die Liebe innerhalb einer Familie auf die Leinwand zu bringen. Seine beeindruckende technische Beherrschung der Beziehung von Ton und Bild steht dabei immer im Dienste tiefer psychologischer Wahrheiten.
(Philip Lopate, in: Film Comment, New York, Nov./Dez. 1996)
(...) Der Leitfaden des Films, und gleichzeitig ein unerschöpfliches Reservoir an Komik, ist Oscars lebhaft-widerspenstige und sarkastische Einstellung den Bemühungen seines Sohnes gegenüber, sein Leben aufzuzeichnen. In drastischen Worten beharrt er darauf, daß niemand auch nur das geringste Interesse an einem gewöhnlichen Leben wie dem seinen haben könnte.
Als ihm Alan die Landkarten und Dokumente zeigt, die seine Recherchen über das kleine Dorf in Polen, wo die Großeltern herstammten, zu Tage gefördert haben, reagiert Oscar mit vollkommenem Desinteresse. Alan scheint zu bezweifeln, daß die Wurzeln seiner Familie Oscar nichts bedeuten, doch dessen Nein diesem Thema gegenüber ist so unerschütterlich wie vielen andenen gegenüber auch: Wenn es nicht gerade von unmittelbarem Nutzen für ihn ist, soll es zur Hölle fahren.
Trotz dieser gepfefferten Proteste bestätigt der Film schnell seine unausgesprochene These, daß kein Leben belanglos sei. (...) Seine Lebenserfahrungen von faszinierendem Reichtum und umfassen viele der großen Themen dieses Jahrhunderts, von der Einwanderungswelle der europäischen Juden nach Amerika bis zum Zweiten Weltkrieg, dem Holocaust und der Einsamkeit, die Menschen inmitten äußerlichen Wohlstands und Erfolgs befallen kann.
Sohn Alan peppt die Erzählung seines Vaters durch schnelle Schnitte, Standbilder, stilisierte Graphiken auf und verarbeitet Interviews mit seiner Mutter, seiner Schwester und verschiedenen Cousins, wie auch alte Photos und Super-8-Filme.
Beim Anblick vergilbter Photos erinnert sich Oscar daran, daß sein Vater, ein Immigrant und kalter, emotionsloser Mensch, den liebevollen Aspekt der Kindeserziehung seiner Frau überließ. Auf anderen Photos sieht man Oscar als gutaussehenden Teenager mit jungen Frauen und seinen Kameraden von der Marineausbildung vor dem Zweiten Weltkrieg; in unmißverständlichem Ton sagt er, daß dies die glücklichste Zeit seines Lebens war.
Oscars alte 8mm-Aufnahmen, auf denen die Berliners als archetypische Kleinfamilie der fünfziger Jahre zu sehen sind, verursachen den einzigen Moment, bei dem sein Wortschwall schlagartig verstummt: Als Alan seinen Vater fragt, warum er diese Filme gedreht hat, fehlen ihm buchstäblich die Worte.
Aber genau diese fehlende Antwort spricht Bände über sein schmerzhaftes Bedauern, eine temperamentvolle europäische Möchtegern-Künstlerin geheiratet zu haben, die ihm zwei Kinder gebar, sich aber bald in der Ehe gefangen fühlte und nur aus Rücksicht auf die Kinder viele angespannte, unglückliche Jahre hindurch bei ihm blieb.
(...) Offensichtlich ist Alans Ziel nicht nur, über das Verstehen seines Vaters sich selbst besser verstehen zu können, sondern auch eine Art der Versöhnung mit seinem Vater in dessen letzten Jahren zu erreichen. Eine solche Geste mag keine großen Chancen haben gegenüber einem Leben, das von emotionaler Zurückhaltung bestimmt war, doch die Wehmut wird von einer passenden Schlußszene voller Komik überdeckt: Während des Abspanns hört man Oscar seinen Sohn dafür beschimpfen, daß er Filmemacher geworden sei anstatt Buchhalter. (Godfrey Cheshire, in: Variety, New York, 21.-27. Oktober 1996)
(...) "Es scheint, als ob Alan Berliner die angemessene Form für den Familiendokumentarfilm gefunden hätte, " stellt Jack Salzman, Direktor der Medienabteilung des Jüdischen Museums, fest. "Auf energische, lebendige Art und Weise geht er Familienbeziehungen auf den Grund. Er versteht es, seine eigene Präsenz und seine Stimme in den Film einzubringen, ohne dabei narzißtisch zu werden."
Wie aber gelingt es Alan Berliner, in seinen Nachforschungen die Untiefen des Familienfilms zu umschiffen? Zunächst sind sie dramaturgisch sehr dicht gearbeitet (jeder Film ist nicht länger als eine Stunde), voll gepfefferter Konflikte und Widersprüche, in ihrer filmischen Technik äußerst innovativ, ganz unberechenbar strukturiert; außerdem bauen die Filme auf intensiver Vorarbeit auf.
"Meiner Meinung nach ist Alan Berliner der denkbar aufregendste Ausbruch aus der Sackgasse des Familienfilms gelungen", meint Richard Peņa, Progammdirektor der Film Society des Lincoln Centers. äIn den meisten Dokumentarfilmen wird eine Kamera aufgestellt und darauf gewartet, daß etwas geschieht. In den Filmen von Alan Berliner erkennt man sehr viel spielerischere, essayistischere Gedankengänge."
Mr. Peņa vergleicht Intimate Strangers (Berliners letzten Film) mit seinen vielen widersprüchlichen Erzählerstimmen mit Citizen Kane; Berliner bestätigt, daß der Film ihn beeinflußt hätte. Der Punkt ist, daß Berliners Art zu erzählen mehr mit der subjektiven Psychologie der Figuren in einem Spielfilm gemein hat als mit der dokumentarischen Tradition, die Dinge als objektive Wahrheit zu zeigen. (...) (Phillip Lopate, in: New York Times, 12. Januar 1997)
Mitch Albert: Warum war es für Dich so wichtig, diesen Film zu machen?
Alan Berliner: Vieles im Leben meines Vaters schien mir rätselhaft. Ich wollte immer wissen, warum er so lebte - zurückgezogen, pessimistisch und mit einer zynischen Einstellung dem Leben gegenüber. Es fiel mir sehr schwer, seinen Lebensstil zu akzeptieren. Auf der anderen Seite konnte ich meinen Vater aber auch nicht ändern oder beeinflussen oder ihn gar mit meinem Enthusiasmus anstecken, auch wenn ich mich noch so bemühte. Eltern - sei es zu Lebzeiten oder nach ihrem Tod - senden uns Botschaften zum Thema ,Leben'. Bewußt oder unbewußt werden diese Mitteilungen ein Teil von uns.
M.A.: Welche Botschaften sandte Dir Dein Vater?
A.B.: Daß ihn die Mißgeschicke in seinem Leben überwältigt haben und daß er irgendwann das Opfer der Umstände wurde. Mein Vater hat mir so viele Male gesagt, daß er ,im Herbst seines Leben stünde', daß ,seine Zukunft hinter ihm liege', daß er nicht mehr lange zu leben habe. Ich höre das seit mindestens fünfzehn Jahren. In meinem Film fordere ich ihn und seine negative Haltung heraus und konfrontiere ihn mit der Tatsache, daß er die ganze Zeit allein ist und keine Freunde hat. Es ist schwierig, diese Themen mit einem Elternteil zu besprechen, aber diese Dinge haben mich schon eine ziemliche Weile beschäftigt. Letztendlich glaube ich, daß wir beide Mut bewiesen haben, ich, indem ich die Fragen stellte, er, indem er sie beantwortete.
M.A.: Hast du jemals gedacht, daß dein Vater vielleicht nichts mit einem Film über sein Leben zu tun haben will?
A.B.: Man muß bedenken, daß seine Vergangenheit auch Teil meiner Vergangenheit ist. Es gibt Dinge in unser beider Leben, von denen nur er etwas weiß und die nur er mir erzählen kann. Trotz seiner hartnäckigen Zweifel am Wert seiner Biographie verstand er, daß meine Nachforschungen auf dem Gebiet unserer Familiengeschichte für mich eine Notwendigkeit darstellten. Indem er sich zur Mitarbeit bereiterklärte, half er mir nach all den Jahren wieder einmal bei den Hausaufgaben. Vielleicht fühlte er sich dadurch gut und nützlich. In gewisser Weise wurden wir Partner während der Herstellung des Films. Ein Journalist beschrieb den Film als ein ,verbales Slapstick-Duett', als ob unsere Gespräche ein Standard-Element einer Komödie wären. Ich denke, man kann das so sehen, aber auf der anderen Seite darf man nicht vergessen, daß wir über sehr ernste und emotionale Themen sprachen. Es gab vieles, worüber er nicht sprechen wollte, und er drohte immer wieder, das Mikrophon auszuschalten und wegzugehen, was er aber nie tat. Er ist nie weggegangen.
M.A.: Worüber wollte er nicht sprechen?
A.B.: Die Ehe mit meiner Mutter, die Gründe für ihre Scheidung und die Auswirkung der Scheidung auf sein Leben waren Themenkreise, über die er nicht reden wollte. Seine generelle Abneigung zu sprechen verdeutlichte, mit welcher Bescheidenheit er über sich dachte. Wie er im Film sagt: "Ich heiratete, zog die Kinder groß, arbeitete hart, baute meine eigene Firma auf, das ist alles. Es besteht kein Grund, darüber einen Film zu machen." Die Integrität und die Beständigkeit seiner Gleichgültigkeit fand ich bemerkenswert. Wenn ich ihm sagte: "Je öfter Du sagst, daß Du kein Interesse (an Deiner Familie) hast, desto stärker wird mein Wunsch, Dich umzustimmen.", antwortete er: äDu hast eine schlechte Angewohnheit. Du denkst, wenn Dir etwas wichtig ist, müssen alle anderen es auch für wichtig erachten." Und dann warnte er mich, daß der Film ein Mißerfolg werden würde, wenn ich seinen Rat nicht befolgte. Diese Art von Dialog schafft die Polemik des Films: mein romantisches Wesen gegen seinen Stoizismus.
M.A.: Wolltest Du Deinen Vater auf ganz bestimmte Art und Weise porträtieren?
A.B.: Nein, so gehe ich nie vor. Ich lasse die Personen meiner Filme immer auf mich zukommen. In diesem Fall sollte mein Vater die Puzzle-Stücke selbst entwerfen. Ich wollte ihn genauso lassen, wie er ist.
M.A.: Der Film vollführt einen beachtlichen Balanceakt zwischen der Sicht von außen und der von innen.
A.B.: Ein Teil in mir wollte meinen Vater beschützen. Auf der anderen Seite wußte ich, daß ich, wenn der Film den Zuschauern etwas sagen sollte, die Beziehung außerhalb des sicheren Hafens der Sentimentalitäten zeigen mußte. Daß wir uns auf hohe See begeben mußten, wo die wirklichen, vielschichtigen Menschen leben. Wo, wenn du so willst, die fiktiven Charaktere leben. Da draußen gibt es keinen Schutz, weder für mich, noch für ihn. Die Menschen projizieren alles mögliche auf einen. Das ist eines der Risiken, wenn man einen persönlichen Film macht.
M.A.: Warum hast du den Boxkampf als immer wiederkehrendes Motiv ausgewählt?
A.B.: Mein Vater und ich streiten seit langer Zeit. Ich benutzte die Boxszenen zum einen, um das ödipale Drama zu zeigen, zum anderen wollte ich dafür aber auch einen humoristischen Kontext schaffen, als eine Art Wortgeplänkel. Du wirst feststellen, daß in den Archivfilmaufnahmen der Boxkämpfe keiner der Boxer k.o. geschlagen wird, es gibt nur jede Menge Schlagabtausch. Beim Soundtrack verhält es sich ebenso. Obwohl ich als Filmemacher die letzte Kontrolle habe, gab ich mir Mühe, auch Beleidigungen und Ermahnungen gegen mich in den Film aufzunehmen. Als ich ihn zum Beispiel nach der Scheidung frage, sagt er mir, ich sei nicht in der Lage, das zu verstehen, mir würde es an Mitgefühl und an Einfühlungsvermögen mangeln, ich hätte kein Gefühl dafür, was diese Sache für ihn bedeute. Es ist mir sehr wichtig, daß mein Vater siegreich aus manchen Wortgefechten hervorgeht. Ironischerweise ist mein Vater der ,Sieger', um diese Metapher weiter zu benutzen. Ich bin eher der Herausforderer.
M.A.: Kannst Du etwas über die Szenen sagen, die einen ganz normalen Tag im Leben deines Vaters zeigen?
A.B.: Ich hatte ihn seit langem und immer wieder gebeten, mir zu schildern, wie ein normaler Tag in seinem Leben abläuft. Er weigerte sich jedes Mal. Dann plötzlich war er einverstanden. Ich war ergriffen darüber, daß er mir endlich Einblick in einen Teil seines Lebens gewährte, der mir so lange verschlossen geblieben war. Meiner Meinung nach sind diese Szenen mit die rührendsten Momente des Films, wobei ich sagen muß, daß ich die größten Schwierigkeiten hatte, sie zu schneiden. Mein Vater ist in diesen Momenten am verletzlichsten.
M.A.: Humor und Schmerz ziehen sich durch den Film und wechseln sich ab. Wie war das in Einklang zu bringen?
A.B.: Zuerst waren seine Proteste gegen unsere Familiengeschichte komisch. Aber auf einmal bekommt die Leichtigkeit eine dunkle Färbung und man wird sich bewußt, daß seine Ansichten auf eine traurige, existentielle Zwangslage zurückzuführen sind. Daß er ein Mann ist, der völlig isoliert dasteht und dem das Leben schwere Wunden zugefügt hat. Bis zum heutigen Tag verfolgt mich sein Ausspruch, daß ,die Zeit nicht immer alle Wunden heilt'. Grundsätzlich würde ich mit ihm in diesem Punkt übereinstimmen, mir hatte nur noch niemand so etwas gesagt. Und wenn ein Elternteil einem so etwas sagt, gewinnt es größere Bedeutung.
M.A.: Die Enthüllung seiner Verzweiflung verstärkt beim Zuschauer noch die Fähigkeit, sich in ihn hineinzuversetzen.
A.B.: Ja. Man versteht auf einmal, woher dieser Widerstand kommt. Daß er gar nicht beabsichtigt, komisch zu sein, was uns - ironischerweise - ermöglicht, wieder über ihn zu lachen. Nachdem er uns seine emotionalen und physischen Schmerzen mitgeteilt hat, beginnt er sich als Charakter zu entwickeln. Es verleiht ihm eine gewisse Würde und auch Mut.
M.A.: Gegen Ende des Films verbindest Du Oscar ziemlich geschickt mit der Menschheit, die er eigentlich scheut.
A.B.: Mein Vater hat immer schnell den Satz parat, er sei ,einer von Milliarden von Menschen' - gewöhnlich, durchschnittlich und unauffällig. Er versteckt sich gerne in der großen Menschenmasse. Viele professionelle Genealogen glauben, daß die meisten Menschen auf dieser Erde, egal welcher Rasse, Nationalität oder ethnischen Gruppe sie angehören, viel enger miteinander verwandt sind, als man annimmt. Der Verwandschaftsgrad ist vielleicht nicht mehr als der von Cousins fünfzigsten Grades. Diese Idee hat mich immer fasziniert und ich wollte meinen Vater - ein einzelnes menschliches Wesen - als Schlüssel benutzen, der die Tür zum größeren genealogischen Kontext öffnet.
M.A.: Inwieweit hattest Du eine Strategie entwickelt, Deinen Vater in diese weiterführenden genealogischen Fragen einzubeziehen?
A.B.: Als ich die Bibliothek für Familiengeschichte in Salt Lake City (Utah) aufsuchte, fiel mir das große internationale Interesse an Familiengeschichte und Genealogie auf. Jeden Tag kommen etwa dreitausend Menschen und recherchieren hier. Nur mein Vater, der sich weigert, den Verwandschaftsgrad zu gestorbenen oder noch lebenden Familienmitgliedern anzuerkennen, die er nicht kennt, hat kein Interesse am Stammbaum der Berliners. Den Forschungsstand der Stammbaumforscher ignorierend, läßt ihn die angebliche Verwandschaft mit den Milliarden gewöhnlicher, durchschnittlicher Menschen, in deren Mitte er so gut paßt - wie er immer wieder betont - ganz besonders gleichgültig. Man sieht, daß es hier einen Widerspruch gibt, der es jedoch dem Zuschauer erlaubt, diesen Aspekt selber zu beurteilen. Mein Vater meint, daß mehr Menschen mit ihm übereinstimmen würden als mit mir. Vielleicht hat er recht, was auch in Ordnung ist.
M.A.: Aber Dein Vater fühlt sich Dir verbunden, auch Deiner Schwester, und wie wir später erfahren auch seiner Enkelin Jade.
A.B.: Meine Schwester und ich sind die Hauptverbindungen zwischen ihm und der Welt. Zu Beginn des Films zeige ich ihm Photos seiner Großeltern, die er nie kennengelernt hat. Seine einzige Reaktion ist: "Diese Menschen sind mir scheißegal." Später im Film sieht man ihn wiederum mit seiner Enkelin spielen und sie küssen. Das sind die einzigen Momente im Film, wo man ihn lächeln sieht. Seine Erklärung für diese ,Liebesbekundungen' ist: "Man muß Großvater sein, um zu verstehen, wovon ich rede."
M.A.: Versuchst Du manchmal, ihn mit Argumenten zu schlagen?
A.B.: Ich versuche es, aber vergeblich. Ich weise ihn darauf hin, daß seine Beziehung zu Jade die gleiche ist wie die seiner Großeltern zu ihm. Darauf erwidert er, daß er Jade kennt, im Gegensatz zu seinen Großeltern, die er nie kennengelernt hat und die auch Figuren aus einem Buch sein könnten. Nun gut, er hat recht. Aber dann erinnere ich ihn daran, daß in der fernen Zukunft vielleicht jemand so über ihn sprechen könnte; jemand, der lässig mit einem Achselzucken Photos von ihm, die Erinnerung an ihn, an seine Existenz abtut. Was antwortet er? "Na und! Wem macht das was aus? Was soll ich tun? Warum soll das so wichtig sein?"
M.A.: Er versteht also einfach nicht, worauf Du hinauswillst?
A.B.: Genau. Aber im Grunde ist das auch egal. Letztendlich kann ich ihn nicht mit Argumenten schlagen. Ab einem bestimmten Punkt kann ich einfach nichts mehr entgegensetzen. Seine Gleichgültigkeit hat eine gewisse Kraft und Logik. Auf der anderen Seite empfinde ich große persönliche Befriedigung, nach Polen zu reisen und die Grabsteine meiner Urgroßeltern auf dem Friedhof ausfindig zu machen und zu versuchen, etwas über ihr Leben zu erfahren. Alles hängt davon ab, von welcher Seite man es betrachtet.
M.A.: Wie reagierte Dein Vater, als er den Film zum erstenmal sah?
A.B.: Er hat den Film erst einmal gesehen, bei der Uraufführung im Rahmen der New Yorker Filmfestspiele im Oktober 1996. Aufgrund seiner Schwerhörigkeit hat er nicht viel vom Kommentar mitbekommen. Ich habe den Eindruck, daß der Abend für ihn sehr abstrakt war, sehr aufregend und wahrscheinlich auch sehr beängstigend. Aber er weiß, daß etwas ganz Besonderes an jenem Abend passiert ist, vor allem als elfhundert Zuschauer ihm stehende Ovationen darbrachten.
M.A.: Welche Lehren hast Du aus der Arbeit an NOBODY'S BUSINESS gezogen?
A.B.: Gegen Ende des Films frage ich meinen Vater, ob er diesen Film als eine Liebesbekundung an ihn betrachten würde? Unverfroren verneint er es. Es tat mir weh, das zu hören. Trotzdem war der Film auf mancherlei Weise wie eine Befreiung für mich. Eine Katharsis. Ich fühle mich ihm näher als je zuvor. Es scheint beinahe so, als hätte der Film die Spannungen zwischen uns gelöst. Mir ist klar geworden, daß, wenn ich ihn nicht ändern kann, ich wenigstens versuchen kann, ihn besser zu verstehen. Und Verstehen bedeutet, loszulassen. Loszulassen, d.h. zu akzeptieren.
M.A.: Was, meinst Du, hat der Film bei ihm ausgelöst?
A.B.: Ich glaube nicht, daß er eine solche Erfahrung machen kann, ohne davon beeinflußt zu werden. Ironischerweise mußte ich erst einen Film über ihn machen, um ihm zu zeigen, was ich eigentlich tue. Wahrscheinlich wünscht er immer noch, ich wäre Buchhalter oder Rechtsanwalt, aber wenigstens hat er mir Respekt gezollt. Ungefähr drei Wochen nach der Uraufführung des Films in New York kam ich in seine Wohnung und merkte, daß er die Werbepostkarte mit der Ankündigung meines Films gerahmt und auf ein Bücherregal gestellt hatte. Niemals zuvor hatte er etwas Vergleichbares getan. Ich nehme an, daß das seine Art war, mir zu sagen, daß er mich liebt, oder daß er den Film als ein Geschenk von mir annimmt. Aber ich weiß auch, daß er mich bestimmt nie bitten wird, ihm die Photos seiner Großeltern noch einmal zu zeigen.
(Mit Alan Berliner sprach Mitch Albert, Januar 1997)
Alan Berliner wurde 1956 in New York City geboren. Seit 1973 arbeitet er als unabhängiger Filmemacher und Medienkünstler. 1979 schloß er sein Studium an der School of Art der University of Oklahoma ab. Neben seiner Tätigkeit als Filmemacher ist Alan Berliner als Cutter tätig. Außerdem stammen von ihm zahlreiche Audio- und Video-Skulpturen sowie Installationen.
1975: Patent Pending. 1976-77: Four Corner Time (vier Teile: Line, Perimeter, Traffic Light, Bus Stop). 1977: Color Wheel. 1979: Lines of Force. 1980: City Edition. 1981: Myth in the Electric Age. 1983: Natural History. 1985: Everywhere at Once. 1986: The Family Album. 1990: Late City Edition. 1991: Intimate Stranger. 1996: NOBODY'S BUSINESS.
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