(Feines Pulver) Argentinien 1996 Regie: Esteban Sapir |
80 min., 16mm, 1:1.37, s/w, EP
Produktion: 5600 Film - Esteban Sapir. Buch, Kamera: Esteban Sapir. Kamera: Víctor 'Kino' González. Schnitt: Marcelo Dujo, Miguel Martín. Musik: Francisco Sicilia. Ton: Gaby Kerpel. Ausstattung: Cristina Tavano. Darsteller: Facundo Luengo (Tomás), Belén Blanco (Ana), Marcela Guerty (Alma), Fanny Robman, Nora Zinski, Sandro Nunciatta, Ricardo Merkin, Laura Marti, Miguel Angel Solá, Juan Leyrado. Uraufführung: 5. August 1996, Filmfestival Mar del Plata. Weltvertrieb: Sandra Gugliotta - De las Artes. 1125 Buenos Aires/ Argentina. Fax: (54-1) 924 09 95. |
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Sa 15.02. 22:15 Akademie der Künste So 16.02. 19:00 Babylon So 23.02. 16:15 Kino 7 im Zoo Palast So 23.02. 21:45 Delphi Mo 24.02. 12:30 Arsenal |
Das niedrige Budget und das Alter der drei Hauptdarsteller (Facundo Luengo ist achtzehn, Belén Blanco siebzehn, Marcela Guerty zwanzig) haben die Ästhetik von PICADO FINO beeinflußt und zu seinem besonderen Stil geführt. Von Anfang an hatte ich die Absicht, die Erfahrungen eines jüdischen Jugendlichen darzustellen. Ich wollte von der Kurzsichtigkeit sprechen, mit der er nur das sieht, was er sehen will.
Der Film wirft einen sehr simplen, fast unschuldigen Blick auf die Figuren, die er mit einer Vielfalt von Objekten in Verbindung bringt, so, als ob die Welt neu entdeckt und nach einer ganz persönlichen Logik geschaffen wird. Diese Welt bietet wenig Raum für Worte, denn 'Worte bringen ständig Fragen hervor'. Es gibt jedoch Töne, Herzschläge, Rhythmen, Leben. Die Töne sind so roh bearbeitet wie die Bilder, sie dienen ganz einfach als Texte im Film, jenseits von Sprachgrenzen, zu einem universalen Verständnis.
PICADO FINO erzählt also in seinen tausendfünfhundert Einstellungen eine einfache Geschichte in einer Welt, die nicht so einfach ist.
Peter B. Schumann: Dein Film zeigt das Lebensgefühl von Jugendlichen, die am Rand der Gesellschaft leben, fast wie Ausgestoßene. Ist das Dein Bild der Jugend Argentiniens oder zumindest von Buenos Aires?
Esteban Sapir: Sagen wir, das ist ein Aspekt, diese Aufdringlichkeit und das Sich-Abschotten der Figuren, das ist das Hauptthema von PICADO FINO. Dazu gehört der Wunsch, an einen anderen Ort fliehen zu wollen, ohne genau zu wissen, wie und wohin eigentlich. Das macht die Figuren bis zu einem gewissen Grad immobil. Man könnte sie vergleichen mit einem Hund vor einer Fleischerei: der Hunger läßt ihm den Speichel im Maul zusammenfließen, aber die Angst hält ihn zurück.
P.B.S.: Aber der junge Typ, dieser Tomás, ist doch dauernd in Bewegung.
E.S.: Er bewegt sich jedoch immer nur im gleichen Raum, verläßt ihn nicht. Dieses Abgeschlossensein versuche ich auch in den Einstellungen deutlich zu machen und in der Bearbeitung des Tons, ich will damit eine erstickende Atmosphäre um die Figuren herum entwickeln.
P.B.S.: Der Ton ist ja wohl kein Originalton, manchmal glaubt man sogar, die Tonspur sei kaputt, oder der Toningenieur hätte geschlampt, bis sich der Eindruck einer bewußten Deformation herstellt.
E.S.: Ich wollte, daß der Ton sich wie auf einer alten Schallplatte anhört. Gleichzeitig sollte er dem Ganzen eine gewisse Musikalität geben, der Ton sollte sich wie Musik anhören. Obwohl er ziemlich grell und manchmal unangenehm wirkt, verleiht er dem Film etwas Rhythmisches. Das gesamte Geräusch-Ambiente wurde künstlich erzeugt, mit Hilfe von Samplern. Wir konnten immer nur einige Sekunden Originalton aufnehmen und haben sie dann zu einer Schleife verarbeitet.
P.B.S.: Wieso habt Ihr diesen etwas ungewöhnlichen Weg gewählt?
E.S.: Wir mußten mit Geräten aus der Steinzeit arbeiten: einem Macintosh-Prozessor 'Classic 2' und einem Sampler, mit dem wir nur eine Minute Ton herstellen konnten. Alle Dialoge mußten mit einer Tastatur bearbeitet werden. Sie wurden zunächst asynchron aufgenommen, und dann hat David, unser Tontechniker, jeden einzelnen Dialog mit seiner Klaviatur im Rhythmus der Lippenbewegungen bearbeitet, um die Synchronität herzustellen. Die gesamte Bearbeitung des Tons war ein unglaublicher Prozeß, denn wir konnten uns kein Tonstudio leisten. Wir haben die Dialoge bei mir in der Wohnung aufgenommen, in einem Gehäuse, das wir eigens dafür gebaut haben. Jedesmal wenn draußen der Fahrstuhl ging, mußten wir unterbrechen, deshalb habe ich ihn oft lahmgelegt. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie wir diesen Film machen mußten: nur mit dem, was wir gerade zur Hand hatten. Wir mußten uns ständig überlegen, wo wir was einsparen konnten, wie wir was billiger machen konnten, mußten uns immer wieder neue Lösungen einfallen lassen. Wir hatten so wenig Geld, daß wir uns nicht einmal die sonst selbstverständlichen Probekopien des gedrehten Materials leisten konnten.
E.S.: Wir wußten acht Wochen lang nicht, was wir wirklich aufgenommen hatten. Dann habe ich das Negativ auf Video überspielt, den Schnitt in Video gemacht und diese Videokopie einem Negativcutter gegeben, der nach ihr die Filmkopie geschnitten hat. So hat man in Argentinien, glaube ich, noch nie einen Spielfilm hergestellt. Inzwischen haben andere unsere Methode übernommen. PICADO FINO besitzt also nicht nur experimentelle Elemente, er war ein einziges Experiment. Doch bestimmte Sachen würde ich nie wieder machen, wie z.B. drehen, ohne das Material prüfen zu können. Als Kameramann meines Films hatte ich wenigstens einen Eindruck von dem, was ich aufgenommen hatte.
P.B.S.: Dann muß PICADO FINO ja ein unglaublich billiger Film sein. Normalerweise kostet heute ein argentinischer Spielfilm umgerechnet etwa 1,5 bis 2 Millionen Mark.
E.S.: In dieser Summe sind aber bereits die Kosten für den Start des Films und den Verleih enthalten. Der neue Film von Eliseo Subiela Despabílate amor hat z.B. etwa so viel gekostet. Für PICADO FINO haben wir dagegen nur etwa 40.000 Mark benötigt, in bar. Tatsächlich hat er mehr gekostet, aber vieles von dem, was wir gemacht haben, kann man nicht berechnen.
P.B.S.: Vermutlich wurden auch viele Arbeitsleistungen ohne Bezahlung erbracht.
E.S.: Das war für mich das Besondere an den Dreharbeiten: mit Leuten zusammenzusein, deren Interesse nicht finanzieller Natur war, sondern die aus Interesse an der Sache mitgearbeitet haben. Wir waren nicht viele, nur etwa fünfzehn Leute, aber wir haben wie eine Familie zusammengelebt in einem riesigen Haus, das meiner Großmutter gehörte, in dem wir auch geschlafen haben, wenn es einmal spät wurde. Alle erinnern sich noch gern an diese Erfahrung. Vieles habe ich kostenlos erhalten: die Ausrüstung, die Beleuchtung. Das Einzige, in das ich etwas Geld stecken mußte, war ein alter Lieferwagen aus dem Jahr 1959, so etwas gibt es noch in Argentinien. Ich habe alle Kosten auf ein Minimum reduziert, denn ich wollte von niemandem abhängig sein. Die letzten beiden Wochen mußten die Leute auch noch das Essen mitbringen, weil ich keinen Peso mehr hatte. (...)
P.B.S.: Dein Film hat verschiedene ästhetische Ebenen, die voneinander abgehoben sind: da ist die Ebene der Zeichen und Symbole, dann die Ebene der Bewegungen der Hauptfigur und schließlich die Welt um sie herum. Sprechen wir mal von der Zeichen-Ebene. Manches erscheint etwas rätselhaft, aber es gibt auch Symbole der Orientierung, richtige Wegweiser.
E.S.: Es sind auch Verkehrszeichen, nach denen wir uns richten müssen. Die Hauptfigur steht aber gerade in permanentem Konflikt mit solchen Wegmarken, denn sie sucht ihren eigenen Weg. Die Zeichen dienen dazu, diesen Konflikt auszudrücken, ihn in die Geschichte, die selbst keinen hat, einzufügen. Denn ich habe im ganzen Film vermieden, Situationen zwischen Personen zu schaffen. Bei mir treffen sich zwei Personen, es geschieht etwas um sie herum, sie reagieren darauf und machen sich auf zu einem anderen Punkt der Geschichte. Die Zeichen und Signale sind eine alternative Form, den Konflikt zum Ausdruck zu bringen.
P.B.S.: Dann gibt es auch eher spielerische Beziehungen, z.B. zwischen den Billardkugeln und der Menschengruppe. Doch dahinter steckt sicher mehr.
E.S.: Ich möchte es mit einem Begriff von Julio Cortázar ausdrücken, der von den 'coagulos' sprach, d.h. in einem bestimmten Moment des Lebens verdichtet sich eine Anzahl von Bildern zu einer Idee. Die Billardkugeln, der Ton der aufeinandertreffenden Kugeln, der Umstand, von einer Gruppe von Leuten umgeben zu sein und Kokain zu verteilen, das unscharfe Fernsehprogramm mit Batman - das alles sind einzelne Assoziationen, die eine Situation verdeutlichen, ein Bild vertiefen. Das ist keine Erfindung von mir, aber ich denke, daß das Kino sich mehr auf solche sinnlichen Ausdrucksformen einlassen sollte, denn es darf seine Magie nicht verlieren, sondern muß die ihm innewohnende Kraft seiner Bilder potenzieren. Der Stummfilm besaß das, er konnte einen durch reine, naive Bilder bewegen. Mit PICADO FINO wollte ich einen Film machen, der sich dieser Naivität, dieser Einfalt, dieser Unschuld nähert.
P.B.S.: Ich erinnere mich im Zusammenhang mit dem Billardspiel an die Szene mit dem Polizisten: das ist reiner Stummfilm, Bewegung in ihrer ganzen Naivität.
E.S.: Eine Referenz an die Ursprünglichkeit der Bilder. Das war meine Intention bei diesem Film angesichts der geringen Mittel, die ich besaß. Die Spiritualität dieses Kinos ist irgendwie verlorengegangen. Mein höchstes Ziel als Cineast besteht darin, dem Zuschauer das Empfinden zu vermitteln, daß er diese Bilder zum ersten Mal sieht. Jeder Film sollte deshalb eine Wiederentdeckung der Welt sein.
P.B.S.: Auf der Tonspur ist eine in diesem Zusammenhang irritierende Stimme zu vernehmen: die von Hitler. Der junge Typ hat zwar einen jüdischen Hintergrund, was im Film auch ganz klar angesprochen wird. Dennoch erscheint mir die Verwendung dieser Stimme als Ausdruck einer Art Traumatisierung dieses Tomás nicht angemessen. Ich kann es mir aber damit erklären, daß Du als Argentinier natürlich eine andere Beziehung zu dieser Vergangenheit hast als ich.
E.S.: Ich habe sie einfach benutzt, um einen bestimmten Charakter unserer Gesellschaft, unseres Landes auszudrücken. Wie Du sagst, erlebt Ihr Eure Geschichte anders als wir. Hätte ich beispielsweise die Stimme von Videla (er gehörte zu der Generalsjunta, die 1976 die Militärdiktatur errichtete, die blutigste Terrorherrschaft in der argentinischen Geschichte - Anm. d. bers.) verwendet, dann hätte das für uns etwas sehr Konkretes bedeutet, ich wollte aber mit Hitlers Stimme etwas Universaleres zum Ausdruck bringen, vielleicht war das ein bißchen naiv gedacht.
P.B.S.: Warum muß Tomás überhaupt eine jüdische Vergangenheit haben? Ist das autobiographisch?
E.S.: Der Junge ist Jude, weil der Film in einem gewissen Grad etwas widerspiegelt, was ich sehr gut kenne: meine Vergangenheit. Ich stamme aus einer jüdischen Familie, bin aber kein praktizierender Jude. Der Junge empfindet das, was ich in seinem Alter empfunden habe, er redet, wie ich damals geredet habe. In gewisser Hinsicht ist das ein ganz engagierter Film: ich fühle mich entblößt auf der Leinwand. Ich will damit nicht sagen, daß mein Leben so aussieht, dann wären wir jetzt nicht zusammen. Aber es gibt da schon ein paar Phantasmen und persönliche Erinnerungen: meine Großmutter, die so ähnlich aussah wie die im Film, die Schildkröte, die sich in meinem Gedächtnis eingegraben hat, kleine Details, kleine Bilder, die nicht zu löschen sind. Der Film greift sie auf, so wie ich sie erinnere.
P.B.S.: Die Kameraarbeit Deines Films ist ungewöhnlich. Es gibt Einstellungen, die man nicht vergißt und die man so im üppig subventionierten argentinischen Kino von heute nicht findet. Nur noch in einem anderen unabhängig produzierten Spielfilm, Moebius von der Universidad del Cine, ist eine ähnlich originelle Bildgestaltung zu sehen.
E.S.: Als Photograph lernt man, daß ein Bildausschnitt für sich sprechen muß, geradezu eine Lektion erteilt. Dazu dient meine Suche nach aussagekräftigen Bildern: dieses Quadrat, das sich Leinwand nennt, mit etwas Signifikantem zu füllen. Das Bildformat, das ich am meisten schätze, ist 1:1.33, das Quadrat, das Format des Stummfilms, das ideale Format für diesen Film.
P.B.S.: Wirst Du Deinen nächsten Film wieder in diesem Format und wieder in Schwarzweiß drehen?
E.S.: Eine gute Frage. Den nächsten Film möchte ich in Farbe machen. Henry Alekan, der für die Photographie in den Wenders-Filmen zuständig ist, sagte einmal: "Farbe bedeutet Realität, aber Schwarzweiß ist realistischer." PICADO FINO konnte ich nur in Schwarzweiß machen. Aber den nächsten Film muß ich in Farbe drehen. Das war eine nicht wiederholbare Erfahrung.
P.B.S.: Inwieweit hat das Fehlen ausreichender Mittel die Ästhetik Deines Films beeinflußt?
E.S.: Die Einschränkung zwang zu Alternativen. Ich habe viele andere Formen der Produktion gefunden, vor allem materielle. ber einige haben wir gesprochen. Wenn ich 1,5 Millionen Mark zur Verfügung gehabt hätte, dann hätte ich mir wenigstens täglich das gedrehte Filmmaterial angesehen. Aber die Ästhetik hätte sich nicht wesentlich verändert. Für mich spielt sich der Film nun mal in der Bewegung zwischen den vier Seiten ab, die dieses Quadrat bilden. Ich hätte etwas ruhiger drehen können, hätte mein Team vernünftig bezahlt, etwas mehr Sorgfalt auf den Schnitt und auf den Ton verwendet. Ich bin sicher, daß nicht derselbe Film entstanden wäre, denn ich wäre von außen unter Druck gesetzt worden, vom Produzenten, vom Filminstitut, durch das Ablieferungsdatum. Ich habe zwei Jahre gebraucht, um PICADO FINO zu machen, ich hatte kein Geld, aber ich hatte Zeit, und die kostet auch. Vielleicht hätte ich mit diesen 1,5 Millionen Mark die Zeit angehalten, um denselben Film zu machen.
(Mit Esteban Sapir sprach Peter B. Schumann)
Esteban Sapir wurde am 5. Juni 1967 in Buenos Aires geboren und studierte an der Filmschule des Nationalen Filminstituts (INCAA) Kamera und Fotografie. Er arbeitet als Kameramann für Film und Video. PICADO FINO ist seine erste Filmarbeit.
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