Dass ich an Gedankenflucht leide, ist seit meinem Film NORMALSATZ von 1981 bekannt. Darin wurde sie ja analysiert. Auch wurden in dem Film die Versuche dokumentiert, mit Memorier- und Aufzeichnungstechniken gegen sie anzugehen. Später kam das Vergessen hinzu, das sich auch auf die so angesammelten Artefakte erstreckte. Die Zeit, sie zu durchforsten, war nicht vorhanden, allein schon, weil eine gewisse Produktionsbesessenheit jeden Rückblick versperrte. Blickst du zurück, wird sich die Gesellschaft an dir rächen, also sieh nur nach vorn, solange du kannst. Sei immer ein paar Ecken weiter und immer dort, wo man dich nicht vermutet, und lass dich auf dieser Flucht nicht von deinen Zuschauern einholen. Wer oder was dabei auf der Strecke bleibt, ist klar.
Im Zusammenhang mit dem Projekt Living Archive – Archivarbeit als künstlerische und kuratorische Praxis der Gegenwart des Arsenal – Institut für Film und Videokunst habe ich mich gefragt, wo und zu welchem Zeitpunkt ich die Weichen hätte anders stellen können oder sollen. Erste Weiche, richtig gestellt: Der Filmemacher Larry Gottheim hatte 1973 auf der Hamburger Filmschau meinen Film SCHENEC-TADY gesehen und mich in die USA eingeladen, wo ich ab Mitte 1974 in NYC lebte. Der Kern meines Freundeskreises bestand aus Studierenden und Ex-Studierenden von Larry Gottheim und Ken Jacobs, die dort 1973 das Collective for Living Cinema gegründet hatten, das für zehn Jahre an wechselnden Orten zu einem Kristallisationspunkt für ein künstlerisches Arbeiten mit Film werden sollte. Die Anthology Film Archives waren schon damals unter Jonas Mekas zu einer eher verkrusteten Institution geworden, die sich vornehmlich darauf konzentrierte, den Heldenstatus des schal gewordenen New American Cinema zu schützen und zu wahren. Von dort war wenig Living zu erwarten.
Zweite Weiche, 1977: Der Film DEMON bezeichnet für mich das Ende einer grundlegenden, experimentellen Beschäftigung mit den energetischen Möglichkeiten der Filmform und den Übergang in sehr offen angelegte, auch dokumentarische, quasi-narrative Konstrukte, in denen ich die eigene Existenz und deren verquasten Bedingungen und Verstrickungen thematisieren wollte. Der von 1978 bis 1981 in Manhattan und Hamburg produzierte Film NORMALSATZ war so ein Film. Dass ich darin das in den vorherigen Filmen gestartete, kinematografische Erkenntnisinteresse fortsetzte, ist für mich bis heute verbindlich.
NORMALSATZ wäre ohne das Zusammenspiel mit amerikanischen Freunden nicht zustandegekommen. Die Filmemacherin und Schauspielerin Sheila McLaughlin und die Schriftstellerin Lynne Tillman spielen darin ebenso mit wie Marcia Bronstein, Peter Blegvad, Carla Liss, David Marc, John Erdman, Martha Wilson u.a. Eine Sequenz des Films beruht auf Lynne Tillmans Text The Interpretation of Facts, eine andere Sequenz, die zu Soaps und Sitcoms, auf dem extra für den Film geschriebenen Text Specimen of Table-Model Talk von David Marc und Daniel Czitrom. Der Dichter Hannes Hatje, der Hauptdarsteller des Films, übersetzte Lynne Tillmans ersten Roman Haunted Houses später für den deutschen Verlag, für den ich auch Art Spiegelmans Breakdowns übersetzt hatte.
Die lose und freie Produktionsform von NORMALSATZ inspirierte auch den Produktionsstart von COMMITTED von Lynne Tillman und Sheila McLaughlin und den Ensemble-Film MACUMBA von Elfi Mikesch. NORMALSATZ und MACUMBA hatten 1982 auf dem 12. Internationalen Forum des Jungen Films Premiere. Die bürgerliche Presse, die sich gerade bis zur Idiotie in Betroffenheitsfilme verliebt hatte, kritisierte uns als "bourgeoise Flaneure". Sheila McLaughlin spielte dann auch in Filmen von Elfi Mikesch mit. Elfi wiederum löste mich bei den Szenen von COMMITTED, in denen ich mitspielte, an der Kamera ab. Ich hatte aus meiner aus Hamburg mitgebrachten geblimpten Bolex-Pro-Kamera den Quartz ausgebaut, was zu dem von Jim Hoberman so gepriesenen Period-Look beitrug. Für Sheila McLaughlin brachte der 1984 im Berlinale-Forum uraufgeführte Film den Kontakt zum Kleinen Fernsehspiel, dessen Redaktion damals noch nicht an der später selbst auferlegten Provinzialität litt. Und der American Independent Film war noch nicht der Szene-Götzendienst, zu dem er später mit Hilfe westdeutscher Produktionsförderungen verkam.
Dritte Weiche, 1985: Lynne Tillman hatte ein Drehbuch nach dem Roman Two Serious Ladies von Jane Bowles geschrieben, das sie mit Carola Regnier und Magdalena Montezuma in den Hauptrollen verfilmen wollte. Ich sollte die Kameraarbeit übernehmen und hätte es gern getan. Leider scheiterte das Projekt trotz Zusagen von Paul Bowles an Rechteproblemen, weil eine deutsche Produktionsfirma inzwischen Gelder für einen Film von Sara Driver nach dem gleichen Roman aufgetrieben hatte. Der Film kam nie zustande. Lizzie Borden, die in INSIDE OUT von Sheila McLaughlin mitgespielt hatte, plante nach ihrem großen Erfolg mit BORN IN FLAMES von 1983, in dem wiederum Sheila McLaughlin und Kathryn Bigelow mitgewirkt hatten, mit Miramax den Film WORKING GIRLS, bei dem ich Director of Photography werden sollte. „Going pro“ war angesagt. An diesem Punkt musste ich mich entscheiden. Die Gesetze der Arbeitsteilung und die damalige, im Gegensatz zur BRD, in den USA vorherrschende Praxis einer strikten Trennung zwischen "professionellem" und "experimentellen" Kino, hätte mir mit der Entscheidung für eine Karriere als Kameramann in den USA jede Möglichkeit, dort eigene Filme zu machen, verbaut. Die Erfahrung von John Erdman, dem von der „Industrie“ eine Besetzung in ihren Spielfilmen verweigert wurde, weil er in Filmen von Yvonne Rainer mitgespielt hatte, waren mir Warnung genug. Ich sagte also ab und arbeitete in Deutschland an DIE BASIS DES MAKE-UP (mit John Erdman in der Hauptrolle) und an DIE WIESE DER SACHEN. Für Sheila McLaughlin übernahm ich dann noch die Kameraarbeit für den „Film im Film“ in SHE MUST BE SEEINGS THINGS von 1987, in dem Kyle deCamp „Catalina“ spielt. Kyle spielte dann wiederum zusammen mit John Erdman in meinem Film DER ZYNISCHE KÖRPER von 1990.
Über die Arbeit an SHE MUST BE SEEING THINGS veröffentlichten Petra und Uwe Nettelbeck im September 1986 in Die Republik Nr. 76–78 einen Text, der so beginnt: "Kamera, am 16. Mai 1986. Nachmittags in einem Raum ohne Fenster aufgewacht. In der Nacht zuvor hatte ich fast durchgehend die Handkamera vor dem rechten Auge gehabt, das linke war mit einer Klappe verschlossen. Jetzt bekam ich die Möbel des Zimmers im Kopf nicht mehr zusammen. Die vergangene Arbeit kam mir vor wie ein Trancezustand, eine Traumhöhle, in dem ich als Person nur in der Funktion der Augen und in dem geometrischen Raum, den sie in die Landschaft projizierten, existierte. Eine mehr oder weniger bildbeschreibende Kommunikation mit dem Filmteam war wegen der Handkamera, die ein Mitsehen ausschloss, zusammengebrochen. Das Team wusste nicht mehr, was ich tat. Die Produktion schwebte im Dunkeln. Die Bilder auf der Retina schickten ihre unsichtbaren Konstruktionsstrahlen in den künstlich beleuchteten Drehort. Im Moment seines Entstehens ist dieser Vorgang nicht vermittelbar. Meistens wird diese Tatsache durch die Produktionslüge verdeckt, dass Bilder etwas in aller Sicherheit Einzukassierendes seien. Man kennt die Bilder, in denen sich nichts als der Schreibtisch dessen spiegelt, der sie sich ausdachte...". Es war die Szene, in der Catalina sich nachts mit einem Mann duelliert.
Ursprünglich wollte ich für Living Archive die Filme COMMITTED und NORMALSATZ gekoppelt als Beispiele für eine dreißig Jahre alte, transatlantische Kooperation auf DVD herausbringen. Jetzt erscheint es mir naheliegender, die drei Filme von Sheila McLaughlin und Lynne Tillman zusammen mit dem Video-Interview, das Stefanie Schulte Strathaus und ich am 21. Dezember 2012 mit Sheila McLaughlin im Arsenal aufgenommen haben, und dem Interview, das ich mit Lynne Tillman im Januar 2013 per Email geführt habe, zugänglich zu machen. Die Filme stehen in unserem Projekt für eine in den 70er und 80er Jahren stattgefundene Entwicklung des Experimentalfilms – weg von einer radikal materialbetonten, selbstreflexiven Filmform, hin zu den Erzählweisen des Independent Films, in denen neue Formen filmischer Repräsentation und Dokumentation erarbeitet wurden. Meine Trilogie der Siebziger Jahre, zu der NORMALSATZ gehört und die mit einem ähnlichen Impetus angetreten ist, erscheint dann demnächst ebenso bei Filmgalerie 451.
April 2013
Biografie von Heinz Emigholz