Gibt es einladende, freundliche (Film-) Archive? Zugänglichkeit wird angesichts der Internet-suggerierten scheinbar unendlichen Zugänge mit neuer Verve von den Archiven gefordert. Das konservative, konservierende Bewahren, eine neoliberale Rechte-Ressourcen-Verwertungs-Wirtschaft oder im besten Falle der verknüpfende und gemeinschaftlich teilende Impuls sind gar nicht immer so leicht voneinander abzugrenzen. Und die ökonomischen Grenzen einer politisch verstandenen Praxis der sich öffnenden und öffentlichen Archive kommen auch noch dazu. Gelegentlich wedeln zudem die Wiedergänger des exklusiven Geheimwissens oder der fetischistischen Restauration mit ihren institutionellen Kutten. Nach umfangreichen Recherchen mit den KollegInnen Brigitta Kuster und Sebastian Bodirsky in zwei zentralen Archiven im Maghreb (1) interessiert es mich besonders, wie sich eine "Dekolonisierung hegemonialen Wissens“ als filmischer Anti-Kanon in einem transitären Bildgebrauch in Bewegung setzen ließe. Gar nicht so zufällig landeten wir vor und nach unseren Reisen im Archiv des Kino Arsenal, in dem im Fokus unseres Interesses auf eine Weise gesammelt worden war, die uns immer wieder neu überraschte. Einige Filme haben nur hier überlebt. So befindet sich die einzige, lange von der Filmemacherin Annie Tresgot gesuchte Kopie ihres Films LES PASSAGERS (Algerien 1971) dort, worauf uns der Filmwissenschaftler Olivier Hadouchi hingewiesen hatte, sowie eine rare Kopie von Assia Djebars Film LA ZERDA ET LES CHANTS DE L’OUBLI (Algerien 1978), der einen de-kolonisierenden Gebrauch von Archivbildern im Maghreb unternimmt.
Das Living-Archive-Projekt ist tatsächlich eine große ermutigende, multiperspektivische Einladung zur Vergegenwärtigung und zur spezifischen und kundigen Aktivierung dieser Schätze und damit eine hoffentlich unabgeschlossene Bewegung. Verbindungen und Verschränkungen tauchen auf, die in ihrer oppositionellen Kraft auch darauf verweisen, was überhaupt wo gesagt werden konnte und kann. Was sind die Impulse für die Vergegenwärtigungen? Warum gefällt uns diese länderspezifische Filmgeschichte der großen Formen, der kanonisierten Monumente so gar nicht? Und wie können wir die Lücken der Archive denken? Die Archive sind im Zusammenhang postkolonialer Interdependenzen zu betrachten sowie als Ausdruck kultureller Effekte kolonialer Traumatisierungen und als mögliche, in die Zukunft weisende Erinnerungs-Speicher antikolonialen Widerstands, trotz der Kontinuitäten struktureller Zwänge. "Was "uns" da interessiert, ist ein an Kolonialismus und am Anti-Kolonialismus sowie am Neo- und Postkolonialismus gebrochenes und geteiltes filmgeschichtliches Erbe: Es gibt natürlich keine Systematik, warum welche Filme wo "überlebt" haben. Und was heißt es, wenn ein Film "überlebt?“ (2) Einfach waren unsere Recherchen nicht. Die Widerstände der analogen Archive, zwischen Essigsyndrom und zum Teil undurchschaubaren administrativen Eintrittsritualen, haben durchaus etwas Herausforderndes. Beide Male – sowohl im Archiv des Centre Cinématographique Marocain (CCM) in Rabat, einer ursprünglich kolonialen Gründung, als auch in der Cinémathèque algérienne in Algiers, die kurz nach der Unabhängigkeit Algeriens entstand und lange Zeit ein Zentrum der Filmkultur des gesamten Kontinents war, wurden uns die begehrten Filme im großen Saal unter luxuriösen Bedingungen vorgeführt. Und wir durften in der Folge unseres Besuchs die ausgewählten Filmkopien umsonst ausleihen, was uns überhaupt ermöglichte, in den Filmvorführungen in Berlin ausgehend von Beispielen der marokkanischen und algerischen Filmgeschichte komplexe, diachrone Erzählungen in Verschränkung mit westlichem Filmerbe sichtbar zu machen.
Zwei Kolleginnen arbeiten aktuell mit den Archiven in Algier und den Konsequenzen aus der dortigen dramatischen politischen Geschichte: Die Filmwissenschaftlerin und Forscherin Viktoria Metschl wendet sich für ihr Doktorats-Projekt an der Universität Wien – ausgehend von theoretischen Positionen der Archivtheorie und mittels praktischer Recherche vor Ort durch Interviews – dem weitgehend zerstreuten Filmerbe Algeriens zu als ein "Exempel dezentraler archivarischer Un/Ordnung". Ihre Recherche stützt sich auf die Forderung eines "right to know“ – eines Rechts auf kollektive Erinnerung, sowie eine Auseinandersetzung mit Fragen der Zeugenschaft des Bildes und einer Ethik der Bilder im Umgang mit Archivmaterial – auch zur Aufarbeitung erlittener Gewalt. Sie begibt sich auf die Suche nach den in ganz Europa verstreuten Negativen algerischer Filme.
Die Kunsthistorikerin und Filmwissenschaftlerin Yasmina Dekkar recherchiert für ihr PhD Projekt im Rahmen der postcolonial studies am Goldsmiths’ Institute seit 2009 zur Geschichte der 1964 gegründeten und 2011 nach 3-jähriger Renovierung wiedereröffneten Cinémathèque algérienne in Algier. Diese Cinémathèque war über 40 Jahre lang ein herausragender Ort für offene Debatten und Kritik – ästhetischer
wie sozialer und politischer Themen. Die Cinémathèque galt als zentraler Ort der Begegnung maghrebinischen, afrikanischen Filmschaffens mit dem Kino der ganzen Welt.
Die Bürgerkriegsjahre zwischen 1992 und 2002 hatten verheerende Auswirkungen – auch auf das kulturelle Leben Algeriens. Die Cinémathèque algérienne und ihre 13 Repertoire-Kinos im Land spielten dennoch weiter. Yasmina Dekkar untersucht diese Geschichte sowie den von der Zensur verstümmelten Film Insurrectionelle von Farouk Beloufa, der 1973 ein einziges Mal in der Cinémathèque gezeigt worden war und danach verboten wurde. Die beiden Forscherinnen werden über ihre Forschungen berichten.
"In einem Maghreb, der unterworfen und völlig auf das Schweigen reduziert war, haben uns Fotografen und Filmemacher überrannt, um uns abzubilden. Die "Zerda" ist dieses morbide "Fest", mit dem sie vorgaben, uns greifen zu können. Trotz ihrer Bilder, außerhalb des Bildes und ihres Blickes, der uns tötet, haben wir gewagt, andere Bilder auferstehen zu lassen, Fetzen einer verachteten Alltäglichkeit“, sagt Assia Djebar zu ihrem Film LA ZERDA ET LES CHANTS DE L’OUBLI. In diesem Zusammenhang erweitert ein neues Video des Künstlers Benjamin Tiven A THIRD VERSION OF THE IMAGINARY (Kenia/USA 2013) die Frage des Archivs als prekäres Subjekt der Erinnerung. Wir folgen einem Bibliothekar durch eng bepackte Regale des kenianischen Rundfunk- und Fernsehsenders KBC in Nairobi und hören ein Gespräch zu dem (linguistischen) Problem, das sich mit dem Begriff des "Bildes" im Kontext der Sprache Suaheli stellt: "Auf Suaheli heißt Zeichnung "kochura", die Fotografie "picha", Kino "sinema", und Video ist "video". Aber es gibt kein geläufiges Wort für "Bild". Das Bild ist ein importiertes Konzept... Auf Suaheli kann das Bild nicht ohne sein Medium existieren. Vielleicht kommen wir dem "Bild" am nahesten mit dem Wort Taswira, was Sehvermögen bedeuten kann, aber auch ein schimmerndes Wunder, das man sieht, aber nicht glaubt. Taswira kann ein visueller Gedankengang sein, den eine Gruppe teilt. Oft beschreibt das Wort die Inszenierung eines Dramas, wie es von seinem Publikum verstanden wird: das kollektive Gefühl für einen Ort oder eine Figur, die durch die Kraft der Narration heraufbeschworen wird. Taswira ist ein Bild, dessen technologisches Medium der Verstand / die Psyche ist.“ (3) Wie macht man einen Film ohne Bilder über ein Bild-Archiv? Wie kann man eine visuelle Geschichte erzählen, präsentieren oder sich sogar daran beteiligen, die unsichtbar ist?
(1) Im CCM Rabat für die Filmreihe „Kleine Pfade, verschränkte Geschichten“ mit Brigitta Kuster – im Rahmen des Projekts In the desert of modernity (Marion von Osten, Serhat Karakayali, Tom Avermaete) Haus der Kulturen der Welt, Berlin 2008. Sowie in Algier mit Sebastian Bodirsky und Brigitta Kuster für die Filmreihe Ohne Genehmigung. Die Filme von René Vautier Cinéma militant, Internationalismus, anti-koloniale Kämpfe. Zeughauskino Berlin 2012. siehe www.ohnegenehmigung.com. Außerdem recherchierten wir auch den Archives Albert Kahn/Archives de la Planète, Boulogne-Billancourt.
(2) Brigitta Kuster, April 2013
(3) Zitiert nach dem Text, den der Künstler Benjamin Tiven für sein Video auf der Grundlage von ausführlichen Gesprächen mit dem KBC-Archivar Magambo Mwenda erarbeitet hat.
Biografie von Madeleine Bernstorff
Die Filme aus dem Archiv des Arsenal
LA ZERDA ET LES CHANTS DE L'OUBLI Assia Djebar, Algerien 1978, 16 mm, 60 min
Assia Djebar hat in ihrem Film Dokumentarmaterial aus der Kolonialzeit montiert. Sie gibt den Bildern des Kolonialismus eine neue Lesart, indem sie anhält, untersucht, verborgene Inhalte zum Vorschein bringt. Durch die Montage werden ironische, kritische und bittere Kontraste gesetzt. Sie lässt ein komplexes Bild der Kolonialgeschichte Algeriens entstehen, wobei sie sich besonders auf die Rolle und die Darstellung der Frauen in dieser Zeit konzentriert.
MONANGAMBEEE Sarah Maldoror, Algerien 1969, 16 mm, 15 min
"Monangambeee!" – Schrei der Revolte in Angola. "Monangambeee!" Von Hütte zu Hütte, von Dorf zu Dorf weitergegeben, ließ dieser Schrei in Angola selbst die Mutigsten erblassen. Männer, Frauen und Kinder ergriffen die Flucht und suchten Deckung im Busch. "Monangambeee": das hieß soviel wie 'weißer Tod', zumindest jedoch eine sichere Deportation ohne Rückkehr. Früher begleitete dieser Schrei die Ankunft der portugiesischen Sklavenhändler. Heute ertönt immer noch der gleiche Schrei, das gleiche Pfeifen über die Weite Angolas: er ist Erkennungszeichen und Signal zum Sammeln für die Volksbefreiungsfront.
LES PASSAGERS Annie Tresgot, Algerien 1971, 16 mm, 15 min
1968: Sechs Jahre nach der Unabhängigkeit emigrieren weiterhin 35 000 Algerier jährlich nach Frankreich. Unter ihnen der achtzehnjährige Rachid. 1970: Nach zwei Jahren kehrt Rachid zurück. Nach zwei Jahren, die er nicht vergessen wird.