In meiner Beteiligung zum Living-Archive-Projekt möchte ich mich mit der Vergegenständlichung von Film als konservierter Raum-Zeiterfahrung beschäftigen.
Ausgehend von der Überlegung, dass das Medium Film sich in den letzten 40 Jahren von seiner analogen, zelluloid-basierten materiellen Form in eine parallel existierende digitale Informationseinheit übertragen hat, interessiert mich, was passiert, wenn man den Weg wieder rückwärts geht: vom "psychischen Objekt", das als Einheit in der Erinnerung vielleicht existiert, zum physischen Objekt, das Raum einnimmt – und Zeit beinhaltet.
Ich plane die Herstellung von ca. 30–40 jeweils in sich kettenförmig gegliederter, standardisierter Objektreihen, individuell bemalt und beliebig im Raum verteilbar oder zu arrangieren (horizontal, vertikal, am Boden, auf einem Tisch, an die Wand gelehnt oder als Vorhang). Diese im Arbeitstitel "Filme" genannten Objektketten von ca. 30 cm bis zu 3 Metern Länge und etwa 5–15 cm Durchmesser sind wahrscheinlich aus Holz, möglicherweise Bambus, auch kleinere Versionen mit Erdnüssen erscheinen mir reizvoll.
Sie beziehen ihre individuellen Titel, ihre Länge und Farbstruktur aus dem von mir gesehenen und erinnerten Bestand an Experimentalfilmen im Archiv des Arsenal. Die einzelnen Segmente sollten jedoch eine diskrete aber eindeutige Beschriftung tragen, die auf den ursprünglichen Film verweist. Diese Objekte sollen durchaus dekorative Funktion einnehmen. Ich hielte es möglicherweise auch für produktiv, wenn man sie in die Hand nehmen kann, vielleicht sogar zerlegen oder neu zusammenstellen. In ihrer grafischen Form können diese Objekte zu Bildern werden, die auch in anderen Medien wie dem gedruckten Buch oder auf dem Bildschirm Platz finden – und einzelne Filme repräsentieren.
Es gibt eine Methode, den zeitlichen Verlauf eines Films als farbigen, digitalen Filmstreifen darzustellen. Ähnlich der Slitscan-Fotografie werden viele einzelne vertikale schmale Streifen als Farbrepräsentationen der einzelnen Szenen aneinandergereiht. Auf diese Weise kann man sich schnell über den zeitlichen Ablauf des Films orientieren und es ist leicht, mit dem Cursor an eine bestimmte helle, dunkle oder farbige Stelle zu spingen. Siehe: http://0xdb.org/0189133/timeline
Die bildhafte Repräsentation des Mediums Film als farbiger Streifen im "Metamedium" des Computers erinnert unwillkürlich an die minimalistischen, konzeptuellen Holzobjekte des rumänischen Künstlers André Cadere, genannt "Barres de bois rond" (1979–78). Diese Stäbe bestanden aus handgefertigten, farbig bemalten, zylindrischen Segmenten, die nach immer wieder unterschiedlichen mathematischen Reihenfolgen aneinander gereiht waren und jeweils einen inneren Fehler in dieser Reihe aufwiesen. Die Objekte waren als Kommentar und Erweiterung der Malerei gedacht, als eine "peinture sans fin"; sie besitzen kein Oben und Unten, Vorne und Hinten, Cadere trug sie von Ort zu Ort, man konnte ihre Position verändern.
Ein (Film-)Archiv unterliegt gewissen Ordnungskriterien. Objekte werden gesammelt, sortiert, geordnet, verwaltet. Die Erinnerung an den Inhalt des Archivs und dessen Bedeutung ist jedoch oft idiosynkratischer Art (… wie die fiktive chinesische Enzyklopädie bei Jorge Luis Borges). Dennoch wird die Integrität des einzelnen Films soweit wie möglich zu erhalten versucht, das gilt im besonderen auch für komplizierte Urheberrechtsfragen.
Die Filme selbst sind auf Spulen gerollt, beschriftete Filmdosen werden in Regalreihen gestapelt. Ein einfaches Ordnungssystem erlaubt das schnelle Auffinden der jeweiligen Filmrolle.
Seine bestmögliche Aufführung erlebt der Film unter den standardisierten Bedingungen des Kinos, hier kann das Publikum kollektiv die in einem Film linear organisierten und gespeicherten Bild- und Tonereignisse in einem Zeitablauf von Anfang bis Ende erfahren.
Die Leinwand ist groß, der Ton ist raumfüllend. Ins Kino gelockt wurde man durch ein Filmplakat, einen Hinweis in der Zeitung oder ein Gerücht in der Stadt. Wenn die Menschen den dunklen Kinoraum verlassen, sind ihnen die sensuellen und emotionalen Eindrücke noch anzusehen, sie bewegen sich manchmal noch etwas unsicher, versuchen das eben Erlebte in Worte zu fassen.
Filmkopien können reisen. Sie werden mit der Post verschickt und hoffentlich gehen sie nicht verloren. Mit jeder neuen Aufführung wird eine neue Verbindlichkeit über die im Film gespeicherte, ursprüngliche Information hergestellt, ein neuer Zusammenhang, eine neue Möglichkeit der Interpretation.
Filmkopien können auch zerlegt werden, im einfachsten Fall, indem einzelne Kader herausgeschnitten werden, aus technischen Gründen vielleicht.
Das Filmarchiv des Arsenal beinhaltet auch ein bedeutendes Segment mit historischen Experimentalfilmen. Hier finden sich meist eher kurze Werke nicht-narrativen, experimentellen Charakters, häufig entstanden in Opposition zu den Produkten der industriellen Filmproduktion. Manche der diesen Filmen zugrundeliegenden Strategien sind für eine Auseinandersetzung mit den aktuellen Problematiken, die aus der Digitalisierung entstehen, durchaus interessant. Zum Beispiel der amerikanische, surrealistische, 30-minütige Film ROSE HOBART von Joseph Cornell aus dem Jahr 1936.
Joseph Cornell hatte sich eine auf dem Flohmarkt gefundene Kopie des Hollywood Films EAST OF BORNEO angeeignet, den Film neu geschnitten, verkürzt, um zusätzliche Bilder erweitert und mit einem neuen Ton kombiniert, um so eine gänzlich neue und eigenständige Aussage herzustellen – eine Methode, die in radikaler Weise das Konzept eines Films als unverletzbare Einheit "geistigen Eigentums" in Frage stellt. Man könnte diese Stategie als eine Art frühes "Sampling" bezeichnen.
Außerdem hatte Cornell den ursprünglich schwarz-weißen Film blau eingefärbt, indem er ihn bei seiner ersten Vorführung durch ein blaues Glas projizierte. Dazu spielt er sentimentale Tanzmusik von Schallplatte. Für die Kopie, die er Jahrzehnte später mit Jonas Mekas für das Anthology Film Archives in New York herstellen ließ, entschied er sich allerdings für eine rötlich-violette Färbung und diese weiterhin provisorische, oder nun doch endgültige Version findet sich auch im Arsenal-Archiv. Die Tonebene besteht in dieser Version aus einer Audio-Cassette bzw. mp3/CD mit Mambo-Musik aus den 1960er Jahren, die bei jeder Aufführung parallel zur Projektion des Films (nicht synchron) abgespielt wird. ROSE HOBART, so die Information auf der Filmdatenbank des Arsenal, ist 142 Meter lang und wiegt 0,95 kg.
Ein zweiter, in diesem Zusammenhang für mich interessanter Film im Archiv ist THE EVIL FAERIE von George Landow aka Owen Land. Dieser Film ist 4 Meter lang und wiegt 0,05 kg, hat also nur etwa 5 Prozent der Länge und des Gewichts von ROSE HOBART aufzuweisen. Entstanden 1966 im Rahmen der Fluxfilm Initiative von George Maciunas und Teil des sogenannten Flux Reels, zeigt dieser Film nach einer ausführlichen Titelsequenz nur eine einzige Geste eines unbekannt gebliebenen Darstellers. Dieser Film hat reinen Informationscharakter, es ist nur diese einzige, nicht eindeutig zu entschlüsselnde Geste, die transportiert wird. Doch möglicherweise beinhaltet die Existenz dieses Films zusätzlich einen Fehler: Manche Quellen behaupten, dass Owen Land die Autorschaft bestreitet und der Film entgegen der allgemeinen Behauptung und Annahme von John Cavanough stammt, einem amerikanischen Bildhauer (der schon in den frühen 1960er Jahren mit Flicker-Filmen experimentiert hatte und ebenfalls auf der Fluxfilm Rolle vetreten ist).
Wenn Judith Hopf und Henrik Olesen in ihrem Remake von THE EVIL FAERIE (2008) also die exakte Struktur und Form des Originals kopiert haben, um gleichzeitig eine andere Lesart der im Zentrum stehenden Geste vorzuschlagen, so handelt es sich um eine aktualisierende zwischenfilmische Brücke von 42 Jahren, und der Fehler, die Verfehlung ist Bestandteil des Spieles.
Ephemere Filme, fehlerhafte, fragmentarische Filme, Filme ohne Autoren, Filme nicht fürs Kino gemacht, Filme, die aus konkreter Anneignung entstanden sind: diese Praxis findet heute ihre Plattform im Internet.
Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass viele dieser experimentellen, jetzt als kanonisch beschriebenen Filme an der Schnittstelle von Film und bildender Kunst entstanden sind. Die Geschwindigkeit der Verbreitung der Information über die Existenz und das Wesen eines Werks hat im 20. Jahrhundert stets zugenommen und kulminierte mit der rapiden Ausbreitung und Internationalisierung immaterieller, konzeptueller Ideen bereits Anfang der 1970er Jahre parallel zur Entwicklung des Microcomputers und digitaler Netze. (vgl.: Lucy R. Lippard, "Six Years – The Dematerialization of the Art Object from 1966 to 1972" oder Paul Schimmel (ed.): "Out of Actions: Between Performance and the Object, 1949–1979").
Wenige Jahre später bricht die revolutionäre, erregende Energie der experimentellen Kunst-Filmbewegung. Der "Avantgardefilm" befindet sich in der Krise, sieht sich mit unangenehmen Tatsachen konfrontiert, grundlegende Zweifel erfordern eine Anpassung der ursprünglich radikalen Konzepte – Feminismus, Perfomance und die Verfügbarkeit und Manipulationsfähigkeiten von Video stellen neue Herausforderungen dar. An diesem Punkt taucht kurz die Vorstellung von "Film ohne Film" auf – filmische (Zeit-)Erfahrung wird über die Ränder von "expanded cinema" hinaus gedacht und auf leere Räume (LONG FILM FOR AMBIENT LIGHT, Anthony McCall, 1975) übertragen oder auf bemalte, sich über einen langen Zeitraum verfärbende Leinwände (YELLOW MOVIES, Tony Conrad, 1972/2009).
Die Auseinandersetzung mit der semantischen Überschreitung von Bedeutungsgrenzen hat sich für die bildende Kunst als produktiv herausgestellt (fountain, pipe). Es ist interessant, sich einen leeren Raum, der nur durch das sich verändernde Raumlicht moduliert wird, als "Film" vorzustellen. Doch ein gelb bemaltes Stück Leinwand gilt unter allgemeinen Kriterien noch nicht als Film und hat wahrscheinlich deshalb auch nicht Eingang in ein entsprechendes Filmarchiv gefunden.
Das Konservieren, Zur-Verfügung-Stellen und Verbreiten der Information über historisch experimentelle Filmarbeiten und ihre Konzepte ermöglicht ein Weiterschreiben an einer utopischen "Subgeschichte" des Films (Ernst Schmidt Jr. / Hans Scheugl). Dass dieses Weiterschreiben häufig auch mit einem Zerlegen, Zerreißen und Umschreiben verbunden ist, ist Bestandteil der Selbsterneuerungsfähigkeit des ästhetischen Felds. Wieder liegt der Vergleich mit dem Sampling im Bereich der Musik nahe (man könnte auch die DNA-Sequenzanalyse als Beispiel anführen).
Mit der Vergegenständlichung von Filmen als Objekten im Zusammenhang des Living-Archive-Projektes möchte ich auf die Existenz dieses prekären Zusammenhangs in plastischer Form hinweisen. Den Objekten haftet etwas formal Gemeinsames an, das macht sie zu einem "Set", einer gedanklichen Einheit. Sie tragen eine gewisse, individuelle Information über ihre Länge, Struktur – auch wenn man sie in Teile zerlegt oder neu kombiniert, ist im einzelnen Segment noch die Rückführung auf ihre originale Existenz als reale, konservierte Filme möglich. Sie sehen im Kontext einer Auseinandersetzung mit audiovisuellen Medien etwas ungewöhnlich aus, man kann sie herumtragen. Sie sollten biegsam sein, nicht völlig starr.
"Wir neigen dazu, Kunst, die innerhalb des Zeitraumes unserer Anwesenheit keine Veränderung zeigt, als "Objekt" zu betrachten. Kunst, die innerhalb dieses Zeitraums sich verändert, betrachten wir eher als "Ereignis". ...
Wir selbst sind die Trennlinie, die durch eine bewegliche Zeitskala schneidet. Ein Stück Papier an der Wand besitzt genauso eine Zeitdauer wie die Projektion eines Films. Ein statisches Ding, betrachtet man es als Impulse an das Gehirn, ist ein repetitives Ereignis. Ist nun der Gegenstand der Aufmerksamkeit "statisch" oder "bewegt", so haben wir in beiden Fällen mit zeitlichen Aufmerksamkeitsspannen zu tun, dem Einsatz von Erkenntnis und Erinnerung im Zusammenhang von Kunst-Verhalten.
Weder Objekte noch Ereignisse sind größtenteils verfügbar. Sie sind selten "on show". Da es aber absichtliche, bedeutungsvolle Zeichen sind, hat dies keine Konsequenzen: Sobald eine Idee "im Geiste" etabliert ist, ist sie in den Kreislauf der (Kunst-)Ideen eingetreten und wird von dort auch nicht mehr weggehen, außer durch eine Debatte innerhalb dieses Zirkels."
(Anthony McCall, "Notes on Duration", im Katalog zum Festival of Expanded Cinema, ICA, London, 1976)
Biografie von Martin Ebner