In der Sammlung des Arsenal befinden sich insgesamt 28 spanische Filme aus dem letzten Jahrhundert, davon datieren 23 in den Zeitraum 1965 bis 1985. Diese beiden Dekaden des politischen und gesellschaftlichen Übergangs von der späten Franco Ära in die Zeit der Demokratie habe ich vor Jahren schon einmal untersucht, und zwar im Hinblick auf die Frage, in welcher Weise sich die Kommerzialisierung der spanischen Kunst in den 60er Jahren und der mit dem Tod des Diktators 1975 verbundene sukzessive Systemwechsel in der Zitatkunst des Landes niederschlagen. Meine Fragestellung im Kontext von "Living Archive" bezieht sich nun auf das Kino dieser Jahre, das sogenannte "Cine de Transición".
In anderen kuratorischen Kontexten werden aktuell die Trash-Qualitäten von spanischen Mainstream-Filmen und B-Movies der 60er und 70er Jahre sichtbar. Etwa in der Reihe "The Celluloid Curtain – Europe's Cold War" (im Zeughauskino in Berlin) oder in der von den "Freunden des schrägen Films" kuratierten Reihe zum spanischen Horror- und Exploitationkino "Blancanieves y los Siete Lobos" (Babylon Mitte). Demgegenüber lag und liegt der Fokus der Arsenal-Sammlung auf dem politischen und "anderen" Kino der iberischen Halbinsel. Das katalanische Untergrund-Kino ist hier mit einer ganzen Reihe seiner Hauptwerke vertreten (in einer leider zum großen Teil sehr schlechten Kopienqualität). Dieses "Cine Clandestino" von Llorenç Soler, Helena Lumbreras, Mariano Lisa, Pere Portabella u.a. ist von Pragda in New York in den letzten Jahren international präsentiert worden und war 2010 auch in Berlin zu sehen ("Clandestí. Invisible Catalan Cinema" im Babylon in Mitte und "Gefährliches Kino" Kolloqium der Deutschen Kinemathek).
Im Zentrum meines Projektes sollen die nach dem Tod von Franco entstandenen Arbeiten von Antoni Padros, Basilio Martin Patino, Jaime Chávarri, Albert Boadella, Francesc Bellmunt, Jaime Camino, Ventura Pons, Iñaki Nuñez, Álvaro del Amo, Francesc Ribera und José Luis Guerín stehen. Filme, die in den Jahren 1976 bis 1985 den Weg ins "Internationale Forum des jungen Films" der Berlinale bzw. ins Archiv der Freunde der Deutschen Kinemathek gefunden haben.
An ihnen lässt sich nachvollziehen, wie vor dem Hintergrund von neu gewonnener Meinungsfreiheit und dem Wegfall der staatlichen Zensur im Jahr 1977 zum einen der Schritt in den gesellschaftlichen Aufbruch vollzogen wird, und wie zum anderen das enorme Bedürfnis nach Aufarbeitung von 40 Jahren leidvoller Geschichte sich einen Weg auf die Leinwand bahnt. Da gibt es Filme, die sich wie der Essay GUERNICA ARDE, und die Dokumentarfilme LA VIEJA MEMORIA und EL CAUDILLO der überfälligen öffentlichen Aufarbeitung der Geschehnisse seit der Gründing der Republik 1931 widmen und mit den jahrzehntelang aufrechterhaltenen Propagandalügen des Regimes abrechnen. Da gibt es Filme, in denen – fiktional oder dokumentarisch – die Hinrichtungen an den Oppositionellen der letzten Jahre thematisiert werden, wie in LA TORNA und TOQUE DE QUEDA. Oder in denen zum einen deutlich wird, in welcher Weise in diesem reaktionären, von Falange und katholischer Kirche geprägtem Land jahrzehntelang ein Feldzug ("Cruzada") auch gegen Homosexualität und Transvestismus geführt wurde. Zum anderen wird auf schillernde Art und Weise sichtbar, dass nun der lang ersehnte Zeitpunkt gekommen ist, in dem man an die Liberalität der 30er Jahre und das Erbe von Federico Garcia Lorca anschließen kann. (OCANA, RETRAT INTERMITENT und A UN DIOS DESCONOCIDO) Es gibt aber auch eine Position, die mit dem Wegfall der staatlichen Repression allem Politischen misstraut und von der Zeitgeschichte ablässt. Antoni Padros, dem Autor des anarchischen Anti-Hollywood-Epos SHIRLEY TEMPLE STORY aus dem Jahr 1976 wird die Aussage zugeschrieben, "daß das Subversivste, was man zur Zeit im Film machen könne, ein absolut romantischer Film sei". (Interview in: "El viejo topo" , Madrid Januar 1978). DOS von Álvaro del Amo und LOS MOTIVOS DE BERTA von José Luis Guerín können dieser Gruppe zugerechnet werden.
Die Historikerin Josefina Martínez hat 2006 in der Zeitschrift Historia Social (Nr. 54) einen Text mit dem Titel "Tal Como Éramos. El cine de la Transición Política Española" veröffentlicht. Die Autorin zitiert damit nicht nur Sidey Pollacks THE WAY WE WERE aus dem Jahr 1973 mit seinem spanischen Verleihtitel, dieser Titel zeugt auch von dem Wunsch, im Blick in den Spiegel der Filmgeschichte staunend mehr über sich selbst und den rasanten gesellschaftlichen Umbruch dieser Zeit zu erfahren. In Analogie und Abgrenzung dazu könnte der Titel meines kuratorischen Exkurses in diese Epoche der vielgestaltigen und mehrsprachigen spanischen Kinematographie auch lauten "El cine de la Transición – tal como fue (re-)presentado en Berlín".
Ziel des Projektes ist eine kommentierte Filmreihe, die auch auf den Untergrundfilm der letzten Franco-Dekade und auf andere zeitgenössische Filme des Archivs Bezug nimmt, etwa die spanische (!) Fassung von Helma Sanders-Brahms Filmessay DIE INDUSTRIELLE RESERVEARMEE. Sie soll 2013 als Filmpaket durch eine Reihe von kommunalen Kinos touren.
TOQUE DE QUEDA (Iñaki Nuñez, Spanien 1978)
Iñaki Nuñez' Spielfilm TOQUE DE QUEDA handelt von der tödlichen Repression der Franco-Dikatur. Ausgehend von den Hinrichtungen von Mitgliedern der FRAP (Frente Revolucionario Antifascista y Patriota) im Sommer 1975 inszeniert der Film die Geschichte der Mutter und Widerstandskämpferin Marta.
LA DIADA DE CATALUNYA (Serie: Noticiari de Barcelona, Teil 7, Albert Abril, Jordi Cadena, Spanien 1977)
Der Film zeigt Aufnahmen von und Kommentare zu der Demonstration in Barcelona am 11.9.1977, dem katalanischen Nationalfeiertag. Sie gilt als "eine der größten Kundgebungen der Nachkriegszeit in Europa".
LA VIEJA MEMORIA (Jaime Camino, Spanien 1978)
Jaime Camino hat eine Reihe von Interviews mit Personen der Zeitgeschichte und zeitgenössische Dokumentaraufnahmen montiert. Das Ergebnis ist ein ungeheuer lebendiges und zuverlässiges Bild über die politische Entwicklung Spaniens seit 1931. Wie Camino aus den Einzelinterviews offene Dialoge werden ließ, das ist überrumpelnd, faszinierend und beispielhaft.
CINCUENTA Y DOS DOMINGOS (Llorenç Soler, Spanien 1970) von Llorenç Soler ist eine vielschichtige, anklagende Milieustudie über junge, aus dem Süden des Landes stammende Arbeiter, die in ärmlichsten Verhältnissen in den Vorstädten von Barcelona leben und in ihrer Freizeit das illustre, gefährliche und symbolgeladene Metier des Stierkämpfers lernen.
OCAÑA, RETRAT INTERMITTENT (Ocaña, das unterbrochene Porträt, Ventura Pons, Spanien 1978)
Die 'Ramblas' in Barcelona, das sind Homosexuelle, Transvestiten, Prostituierte, Zuhälter u.a. Marginalisierte. Ihr bis dato verschwiegenes Leben wird zum Sujet dieses Porträts des Malers José Pérez Ocaña.
A UN DIOS DESCONOCIDO (Jaime Chávarri, Spanien 1978)
José, ein weltgewandter Varietékünstler und Zauberer hat eine Liebesbeziehung zu einem wesentlich jüngeren mit einer Frau liierten Mann. Seine Reisen nach Granada in das herrschaftliche Haus, in dem er in den 30er-Jahren als Dienstbotenkind aufgewachsen ist, ist auch eine Reise in die verdrängte Geschichte Spaniens.
SHIRLEY TEMPLE STORY (Antoni Padros, Spanien 1976)
Ein fast vierstündiger Underground-Marathon. Ein freches, musikalisches Schurkenstück in Schwarz-Weiß auf die jüngste Geschichte Spaniens.
LIBERTAT D' ESPRESSIÓ (Aus der Serie: Noticiari de Barcelona Teil 15, Antoni Ribas, Spanien 1978) handelt von der großen Protestwelle gegen das Verbot von LA TORNA und der Verhaftung von u.a. Albert Boadella und dem Streik, den die Gewerkschaft der Film- und Theaterarbeiter, die "Asamblea Permanente de los trabajadores del espectaculo", in Barcelona ausruft.
LA TORNA (Albert Boadella, Francesco Bellmunt, Spanien 1978)
Im September 1977 führte die renommierte katalanische Schauspieltruppe 'Els Joglars' ihr neues Stück 'La Torna' auf, eine aggressive Satire auf die spanische Gerichtsbarkeit. Die Aufführung wurde im Dezember verboten, die Mitglieder der Schauspieltruppe vor ein Kriegsgericht gestellt und zu einer Gefängnisstrafe von 2 Jahren verurteilt. Kurz bevor die 'Joglars' ihre Gefängnisstrafe antraten, konnte die Aufführung in einer einzigen Nacht von katalanischen Filmschaffenden gefilmt werden. (Stuttgarter Zeitung)
CARNET DE IDENTIDAD (Llorenç Soler, Spanien 1970)
Ein systemkritischer Experimentalfilm im Stil von klassischer Avantgarde und Pop Art montiert.
NO COMPTEU AMB ELS DITS (Don't count on the fingers, Pere Portabella, Spanien 1967)
Ein Mann vor dem Badezimmerspiegel, eine blonde Frau mit dem Schriftzug "Brrr!" auf der Stirn, ein Krawattenträger auf der Flucht in den Gängen einer industriellen Abfüllanlage.
Biografie von Sabine Schöbel