MUEDA, MEMORIA E MASSACRE (Ruy Guerra, Mosambik 1979) beginnt damit, eine Vorgeschichte zu erzählen. Es ist die Vorgeschichte einer Geschichte, die mit der Vertreibung der Kolonialgeschichte beginnt, und es ist die Vorgeschichte der Geschichte des Massakers von Mueda im Jahr 1960, die jährlich wiederkehrend als ein historical reenactement in dem Dorf aufgeführt und hier von Dreharbeiten für den Film begleitet wurde.
Dieser Filmbeginn mit seinem Verweis auf einen Ursprung, auf einen zero point, von dem an die Zeit der Übersetzungen zu zählen beginnt, die in der Folge so facettenreich und vielfach filmisch aufgefächert werden – zwischen Geschichte(n) und Geschichtsermächtigung, Erinnerung, Gespenstern und Präsenz, Einmaligkeit und Wiederkehr, Wiederinkraftsetzung –, ist ein Moment, das mich anhaltend irritiert und interessiert hat. Als wäre eine so geartete Gründungsgeschichte ein Paradox, das dabei ist, seine Paradoxie zu verlieren. Oder: Die im Film so machtvoll in Szene gesetzte Hoffnung auf Aneignung und Geschichtsmächtigkeit scheint von einem eigenartigen Vorspann axiomatisiert: einem Index, der sich in seltsamer Nähe zu Bewegungen der Autochthonie befindet, wenn eine Art ursprünglicher Anspruch auf Volkszugehörigkeit, Territorium und Staatsbürgerschaft in der Postkolonie abgeleitet wird.
Eine handgeschriebene Tafel, datiert mit dem "16 de junho". Es wird vorgelesen. Ich schreibe die deutschen Untertitel ab: "Einige Männer verlangten v. d. Behörden / Freiheit und bessere Löhne. // Die Bevölkerung unterstützte / diese Forderungen. // Deshalb schickten die Behörden / Polizei in die Dörfer, // um alle zu einer Zusammenkunft nach / Mueda zu rufen. Einige Tausend kamen. // Der Administrator bat den Gouverneur / von Cabo Delgado, mit einer Kompanie // Soldaten zu kommen. // Die Soldaten waren versteckt. / Wir konnten sie nicht sehen. // Am festgelegten Tag, nach einer Rede / über den Erdnußhandel, // fragte der Gouverneur die Menge, / ob jemand etwas sagen wolle. // Es waren so viele, / dass der Gouverneur sie zu // Seite treten liess. // Ohne weitere Worte / befahl er der Polizei, // ihre Hände zu fesseln. // Dann wurden sie geschlagen. // Ich war dabei und sah alles. // Als die Leute das sahen, / begannen sie, gegen die Kolonialisten // zu demonstrieren. // Inzwischen luden die Kolonialisten / die Gefangenen auf LKW's. // Die Menge protestierte und versuchte, / die Polizei daran zu hindern. // Da rief der Gouverneur die Soldaten / und befahl ihnen, zu schießen. // An jenem Tag, dem 16. Juni 1960, / wurden etwa 600 Menschen getötet. // (Bericht eines Überlebenden)" – Schwarzbild.
Eine männliche Stimme spricht vor, was jeweils im Anschluss ein vielstimmiger Chor wiederholt. – Ich schreibe die deutschen Untertitel ab und mache ein paar Notizen zu den Bildern:
"Die Herkunft des Volkes von Mosambik: // Als die Portugiesen nach Mosambik kamen ... // … im Jahre 1498 …"
Langsame Aufblende auf ein Bild mit einer Spinne, die zu krabbeln beginnt. "… fanden sie … // einen arabischen Führer // … mit Namen … // ... Mouss-en-Bik … // … auf der Insel vor Mosambik …"
Plötzlich ist die Spinne weg; im Bild bleibt nur eine Art Fadenkreuz – oder ist es ein Stück von einem Gitter?
"Bantu … // … ist der Name …"
Rückzoom.
"… einer großen Gruppe … // … von Sprachen …"
Ich erkenne, dass das Bild eine Einstellung durch ein Fenster hinaus darstellt. Was mir als Fadenkreuz oder Gitter erschien, erweist sich als ein gesprungenes Fensterglas.
"… die wir sprechen."
Schnitt: Man sieht die Grundmauern eines im Bau befindlichen Gebäudes.
"Die ersten Bewohner ... //… des südlichen Afrika …"
Das Bild wird unscharf, Rückzoom. Die Schärfe wird auf den Vordergrund gezogen.
"… einschließlich … // Mosambiks // … waren … // … die Buschmänner … // … ein Volk … // … klein …"
Schnitt: Fenster, dann Schwenk in Richtung links unten.
"… von Statur … // … und Nomaden. // Nach den Buschmännern … // … kamen die Hottentotten … // … ein Volk … // … das weiter ... // entwickelt war // in seiner sozialen Struktur // Die Buschmänner // liefen davon … // … in die Kalahari-Wüste ... // … wo sie bis heute leben."
Man hört wieder die Stimme des Vorsprechers oder Lehrers, der nun sagt: "Jetzt wollen wir lesen." Dann folgt der Titel des Films: MUEDA, MEMORIA E MASSACRE.
Die rassistischen Begriffe "Buschmänner" und "Hottentotten" in der deutschen Fassung, die 1981 für das Forum der Berlinale hergestellt wurde (Übersetzung: Sigrid Vagt), entsprechen im portugiesischen Originalton die Wörter "koeshan" und "hottentotes". – Auf deutsch sind diese Begriffe bzw. kolonialen Konstrukte afrikanischer Gesellschaften mit dem Echo der Zeit der deutschen Siedlungskolonie im heutigen Namibia zwischen 1884 und 1915 sowie dem genozidalen Kolonialkrieg zwischen 1904 und 1907 verbunden. Bis in den heutigen Alltagssprachgebrauch hat sich die Bezeichnung "H." als eine Metapher für Unordnung gehalten. Die "Buschmänner" werden im deutschen Koloniallexikon von 1920 bezeichnet als "Volk in Deutsch-Südwestafrika, das sich selbst San nennt." (Band I, 2) Und: "Die H. nennen sich selbst Koikoin, was soviel wie Menschen bedeutet." (Band II, 77) Man war sich also der kolonialen Ent-Nennung durchaus sehr bewusst. Das von Susan Arndt und Antje Hornscheidt 2009 (Münster: Unrast Verlag) herausgegebene Nachschlagewerk Afrika und die deutsche Sprache (Eintrag zu "H." von Stefan Göttel, 147–153) stellt heraus, dass "khoi" ebenfalls eine Fremdbezeichnung sei und beide Konstruktionen mit der überaus fragwürdigen Idee einer kultureller Entwicklung von nomadischen (Jäger und Sammler) zu sesshaften (Viehzüchter) Lebensweisen verbunden sind, wie es auch das Narrativ in MUEDA, MEMORIA E MASSACRE spiegelt. Debunked – Kiste geschlossen. Aber, wenn tatsächlich nicht das Geringste diesen Totalisierungen des kolonialen Archivs ein bisschen entwischt wäre, wie könnte ich es dann wagen, in deutsch weiter zu fragen? Statt einer Quellensuche in deutsch eine Liaison aufnehmen mit einem "Faire crever l'horizon borné que nous ont imposé les anthropologues"(Hountondji 1977: 238)?
All diese fließenden Übergänge vor, während und nach dem Filmschauen, zwischen den Übersetzungen im Film und den Übertragungen anderer Medialitäten, wie etwa dem theatralen Gefüge, in den Film und – wie hinzuzufügen wäre – aus dem Film wieder hinaus in unsere Leben und unsere Körper und deren Alltagspraxen sind Verwandlungen, die einen "safe place" voraussetzen oder erst herstellen, einen Ort, an dem der Schmerz wiederholt und anerkannt werden muss. So saßen wir in Berlin in dem kleinen Kino des Arsenal 2 und guckten auf die Leinwand und von dort wieder fort in den ZuschauerInnenraum hinein und auf dessen Tür. Bei den Translationen, denen wir im Film und anschließend unter uns als VeranstalterInnen und Publikum folgten, ging es um mehr oder anderes als um die Spur des/der Erzählenden, die etwa bei Walter Benjamin wie die Spur der Töpferhand an der Tonschale haftet. – Es handelte sich hier weniger um Handwerk, sondern um Körperwerk, um das ohnehin schwierige Haften von Körpern an Körpern. Das Acting des Übersetzers in MUEDA, MEMORIA E MASSACRE jedenfalls war hierfür fast so etwas wie ein Vorbild, wenn er immer deutlich leicht abgewichen ist von der Vorlage beim Übersetzen vom Kreol ins Portugiesische Translating "up" (into a dominant language), den Gestus vor die Sprache setzen, die verkörperte Geschichte übersetzt den Übersetzer, bevor er mit dem Übersetzen beginnt . Oder das ansteckende Lachen über die Uniformträger, deren tollpatschig vorgetragene Posen zur militärischen Körperdisziplin etwa an die kamerunische Makossa Band Golden Sounds aus den 1980er Jahren erinnern, deren "Zangalewa" (deutsch etwa: wer hat dich geschickt?) in Shakiras Interpretation den WM-Song von 2012 abgab ... Nicht nur die SpielerInnen in Mueda, sondern auch das, was sie spielten, bekam einen Körper, der weit weit mehr als die eigene biografische Geschichte verkörperte, sondern Teilungen, Vervielfachungen, die bis zu Fischen, die aus dem Meer kamen und Affen, deren Schwänze abgeschnitten wurden, zurück reichten... – Vorgeschichten, die keine Ursprungsgeschichten sind, sondern von Migration und Eroberung geprägt, Transmutationen ...
Das Intervall, das Dazwischentreten eines Dritten Raumes zerstöre, so Homi Bhabha, den Spiegel der Repräsentation. "Die Einführung dieses Raumes stellt unsere Auffassung von der historischen Identität von Kultur als einer homogenisierenden, vereinheitlichenden Kraft, die aus der originären Vergangenheit ihre Authentizität bezieht und in der nationalen Tradition des Volkes am Leben gehalten wurde, sehr zu Recht in Frage." (Homi Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000, 56) Er spricht von der disruptiven Zeitlichkeit der Äußerung, die dazu führe, dass die Geschichte (narrative) der westlichen Nation als eine homogene, serielle Zeit deplatziert werde und dafür in eine diskontinuierliche Zeit von Übersetzung und Verhandlung eingebunden. Dieser "in sich" nicht darstellbare Zwischenraum, der konstitutiv dafür sei, dass sich die kulturellen Zeichen übersetzen, re-historisieren lassen – und vor allem auch, dass sie neu belegt, umcodiert werden können –, bringt Bhabha mit Frantz Fanons Vision des revolutionären kulturellen und politischen Wandels als der "schwankenden Bewegung" einer verborgenen Gleichgewichtsstörung in Verbindung und plädiert dafür als eine kulturelle Praxis, deren produktive Potenziale kolonialer und postkolonialer Herkunft seien. "Denn eine Bereitschaft, in jenes fremde Territorium (…) hinabzusteigen, könnte den Blick dafür frei machen, dass die theoretische Anerkennung der Gespaltenheit des Äußerungsraumes den Weg zur Konzeptualisierung einer internationalen Kultur weisen könnte (...). Dabei sollten wir immer daran denken, dass es das 'inter' – das Entscheidende am Übersetzen und Verhandeln, am Raum da-zwischen – ist, das den Hauptanteil kultureller Bedeutung in sich trägt. Dadurch wird es uns möglich, Schritt für Schritt nationale, anti-nationalistische Geschichten des 'Volkes' ins Auge zu fassen. Und indem wir diesen Dritten Raum erkunden, können wir der Politik der Polarität entkommen und zu den anderen unserer selbst werden." (ebd. 58)
Wie akut dies für den deutschsprachigen Raum ist, scheint mir etwa die Debatte und das Schweigen um Johan Simons Inszenierung von Jean Genets "Les Nègres" auf den Wiener Festwochen zu zeigen, über die Matthias Dell in Zeit Online schrieb: "Wenn es offenbar schon zu viel ist, von einem Regisseur, der als Intendant dem Theater des Jahres 2013 vorsteht, zu verlangen, das Problem am Gebrauch des N-Worts zu verstehen – wäre es nicht wenigstens drin gewesen, dass Simons den einzigen Witz des Stoffes nicht kaputtmacht? Genets Regieanweisung, nur schwarze Schauspieler zu besetzen, hatte immerhin verstanden, dass es beim Rassismus im Theater um konkrete Repräsentationsfragen geht. Dass Simons nun weiße Schauspieler schwarze Schauspieler spielen lässt, die weiße Kolonialisten spielen, zeigt dagegen, dass er das Stück überhaupt nicht begriffen hat."(1)
(1) www.zeit.de/kultur/2014-06/neger-genet-simons-festwochen/seite-2