"Gespenster der Freiheit" konzentriert sich auf Filme, die während einer Phase politischer Umbrüche entstanden sind und die diese dokumentieren oder selber als Ausdruck einer "neuen Zeit" gesehen werden können. Filme also, die von revolutionärem Elan getragen sind oder diesen zu entfachen versuchen; Filme, die Bilder und Töne für eine sich ankündigende oder bereits gewonnene neue Freiheit suchen, die es dabei aber oft auch mit den Gespenstern der Freiheit zu tun bekommen: mit der Wiederkehr des scheinbar Überwundenen in neuem Gewand, mit dem Müllhaufen der Symbole, Bilder und Parolen und einer plötzlich anachronistisch gewordenen Sprache, mit einer Zukunft, die einstweilen mehr beschworen als gelebt wird.
Indem es dabei um das Verhältnis zwischen Kino und Zeitgeschichte geht, wird auch die Zeitlichkeit von Filmen zum Thema. Wie können Filme eine Zeit abbilden oder das Geschehen "ihrer" Zeit beeinflussen; wie machen sie aus einem Publikum Zeitzeugen und wie werden sie dabei selber in gewisser Weise zu Zeitgenossen? Der Fokus auf Revolutions- oder Umbruchphasen verstärkt dabei die Diskrepanz zwischen der Dringlichkeit des Zeitbezugs bei der Entstehung des Films und der rückblickenden Betrachtung in der Archivarbeit. Nicht nur, was ein jeweiliger Film "heute noch" zu sagen hat, sondern auch wie er heute zu sehen ist und was eine solche Archivsichtung mit unserem Bezug auf die eigene Zeit macht. Neben der Zeitlichkeit des Films und dem besonderen Zeitbezug des Archivs wird damit auch die Zeitlichkeit der kuratorischen Arbeit befragt, insofern sie hier darin besteht, das Archiv als "Gedächtnis" zu aktivieren und dabei auch als einen Modus des Vergessens und des Aufschubs zur Sprache zu bringen.
Der Umgang mit dem Archiv und der Blick auf die Filme geht dabei unter anderem von einer Vorstellung von "Erbschaft" aus wie sie Jacques Derrida, etwa in "Marx' Gespenster", beschrieben hat. Wenn zu leben demnach unweigerlich heißt, eine Erbschaft anzutreten, "ob wir es wollen und wissen oder nicht", dann stellt sich im Umgang mit jedem Archiv die Frage, was es von diesem gewollten oder ungewollten Erbe erzählt, und wie es um unserem Willen steht, sich damit auseinanderzusetzen. Was Derrida über die Erbschaft sagt, dass sie nämlich mehr unser Verhältnis zur Zukunft herausfordert, als unseren Umgang mit der Vergangenheit, lässt sich womöglich auch über das Archiv sagen. Bei "Gespenster der Freiheit" steht jedenfalls die Frage im Raum, wie sehr man sich auf die immer auch gespenstische Erfahrung einlässt, Bilder und Stimmen aus einer anderen Zeit zu einer gegenwärtigen Erfahrung zu machen und in den Umbrüchen der Vergangenheit womöglich die noch immer unerfüllten Hoffnungen der Gegenwart zu erkennen. Das Gespenst zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass es zwar aus der Vergangenheit zu kommen scheint, uns aber in der Zukunft erwartet.
Die Programme "Gespenster der Freiheit 1 & 2" stellen filmhistorische und assoziative Bezüge her zwischen dem Arsenal-Archiv und zwei Archiven in Mosambik und Guinea-Bissau, die wichtige Kapitel einer Geschichte des anti-kolonialen afrikanischen Kinos erzählen. Die beiden Archivfilme ACTO DOS FEITOS DE GUINÉ (Portugal 1980) von Fernando Matos Silva und MUEDA, MEMORIA E MASSACRE (Mosambik 1979) von Ruy Guerra wurden zum Anlass, Catarina Simão und Filipa César einzuladen, ihre unabhängig voneinander unternommenen Recherchen zur Filmgeschichte der ehemaligen portugiesischen Kolonien im Kino Arsenal vorzustellen. An insgesamt fünf Abenden schaffen Filme unterschiedlicher Herkunft, Bildfragmente und Tonspuren einen Resonanzraum, in dem die Rolle des Kinos in den Dekolonisierungsprozessen der 1970er Jahre und auch die Politik von Archiven zur Sprache kommen können.
Das gemeinsam mit Catarina Simão kuratierte Programm (5.–7.11.2012) konzentriert sich auf verschiedene Erzählstrategien eines Kinos der Dekolonisation: Improvisation und cinema verité bei Ruy Guerra, symbolisch verdichtete Parabeln bei Sarah Maldoror und Joaquim Lopes Barbosa, Dekonstruktion und Entmachtung des kolonialen Bildarchivs bei Assia Djebar und Trinh T. Minh-Ha. Erkenntnisse und Fragestellungen aus Catarina Simãos Rechercheprojekt Fora de Campo/Off Screen project zum nationalen Filmarchiv in Maputo werden durch Filme aus dem Arsenal-Archiv ergänzt und weitergeführt.
Zum Programm gehört die Video-Installation THESE ARE THE WEAPONS (2012) von Catarina Simão in der Black Box im Arsenal-Foyer, eine visuelle Re-Lektüre des Films ESTAS SÃO AS ARMAS (Mosambik 1978) von Murilo Salles.
Das gemeinsam mit Filipa César kuratierte Programm (27. & 28.11.2012) zeichnet aus Fragmenten, Rohschnitten sowie später oder andernorts entstandenen Filmen die Skizze eines möglichen Kinos der Dekolonisation in Guinea-Bissau. Filipa Césars Projekt "Luta ca caba inda" (The struggle is not over yet) widmet sich dem nur noch teilweise erhaltenen Archiv des Nationalen Filminstituts in Bissau und der fragmentarisch und unfertig gebliebenen Phase eines militanten Kinos in der ehemaligen portugiesischen Kolonie. Auch hier werden der Bildbestand und der Imaginationsraum des Archivs in Bissau mit Filmen aus dem Arsenal-Archiv ergänzt und in einen kritischen Dialog gesetzt.
Zu Gast ist der Filmemacher Sana na N'Hada, einer der Hauptakteure der militanten Filmarbeit, die es in Guinea-Bissau zwischen 1972 und 1980 gab und von der das Archiv in Bissau (und bruchstückhaft auch ACTO DOS FEITOS DE GUINÉ) Zeugnis ablegen.
In einem dritten Programmteil sollen die skizzierten Fragestellungen zum Kino in Umbruchzeiten und der Zeitzeugenschaft von Filmen anhand von acht bis zehn Filmen aus dem Arsenal-Archiv weiter diskutiert werden. Der thematische Kontext der Dekolonisation wird dabei präsent bleiben, aber nicht mehr unbedingt im Mittelpunkt stehen. Jede Auseinandersetzung mit dem sogenannten "Dritten Kino" – also einem Kino, das ja nicht einfach eine dekolonisierte Realität zeigt, sondern sich damit auseinandersetzt, wie Machtverhältnisse mit den Mitteln des Films zu dekolonisieren sind – zeigt jedoch, dass koloniale Gewalt immer auch Bildgewalt ist, eine Gewalt der Blicke, des "Framing" und der Stigmatisierung, und somit eine Gewalt, die sich des Kinos bedient, die das Kino aber auch brechen kann.
LADONI (Artur Aristakisjan, UdSSR 1990)
In Kischinjow gibt es einen Bettler, der den ganzen Tag lang durch die Straßen läuft und laut vernehmbar zu seinem ungeborenen Sohn spricht. Die Menschen hören ihm zu. Vor zwanzig Jahren sollte das Kind geboren werden, doch seine Braut hat es abgetrieben. [...] Ich habe den Film zwischen 1986 und 1990 gedreht und für ihn monatelang die Bettler begleitet. Sie waren bereit, sich vor der Kamera zu entblößen. Einer sagte mir sogar, dass er bereit sei, sich vor der Kamera zu töten, damit ich seinen Tod filmen könne.
SADY SKORPIONA (The Scorpions's Gardens, Oleg Kovalov, UdSSR 1991)
Aus den Fragmenten von Spionagefilmen, aus medizinischen, musikalischen, propagandistischen Streifen versuchten wir, eine surrealistische Phantasie über das sowjetische Tauwetter der 50er Jahre zu machen.
LE FRANC (Djibril Diop Mambety, Senegal 1994)
Wovon träumt ein Musiker, der Sorgen hat, wenn nicht von seinem Instrument? Marigo träumt von seiner Congoma, die die boshafte Vermieterin aufgrund ausgebliebener Mietzah- lungen konfisziert hat. Dabei ist die Congoma sein ganzes Leben.
MABABANGONG BANGUNGOT (Der parfürmierte Alptraum, Kidlat Tahimik, Philippinen 1977)
Weit hinten bei den Amok-Bergen, in dem Dorf Balian, wohnt Kidlat Tahimik und träumt von der fernen großen Welt. Nur eine alte steinerne Brücke verbindet Kidlats Dorf aus Bambushütten mit der Zivilisation, aber er ist stolz und zuversichtlich: "Ich wähle mein Fahrzeug und kann jede Brücke überqueren." Und so probt er den Aufbruch, erst mit Spielzeug-Autos wechselnder Größe, dann mit seinem bunt bemalten "Jeepney", einem umgebauten amerikanischen Militärfahrzeug, mit dem Kidlat Tahimik Menschen und Waren transportiert.
WEST INDIES (Med Hondo, Frankreich 1979) erzählt von einer Insel im karibischen Meer, von der Geschichte des Volks der Antillen. Gestern noch herrschte die Sklaverei: die kräftigsten Männer und Frauen werden zu Millionen dem afrikanischen Kontinent entrissen; zwangsweise werden sie auf Sklavenschiffe verfrachtet und auf öffentlichen Plätzen verkauft.
Biografie von Tobias Hering