Auf der Suche nach der Zeit |
Zunehmend wird man sich der Verpflichtung bewußt, Erinnerungen festzuhalten, die vielleicht schon bald unwiederbringlich verloren sein könnten - weil die Zeitzeugen aussterben.
Und schließlich: mit dem Fortschreiten der Zeit akkumuliert sich immer mehr Filmmaterial, das zum Teil unseres kollektiven Gedächtnisses geworden ist. Für Filmemacher ist es eine Herausforderung, mit diesem Material umzugehen, auf die bekannten Bilder einen neuen Blick zu werfen oder Unbekanntes dem Vergessen zu entreißen.
In vielen Filmen des diesjährigen Forums-Programms zeichnet sich das Bemühen ab, Bilder und Zeugnisse dem Vergessen zu entreißen. Zum Beispiel in Ulrike Ottingers epischem Zyklus EXIL SHANGHAI, in welchem die Regisseurin ein wenig bekanntes Kapitel der Emigrations-Geschichte beschreibt - die Emigration europäischer Juden auf der Flucht vor dem Nazi-Regime in die Stadt Shanghai, die zum letzten Refugium der Verfolgten wurde, weil es dort keine Einwanderungs-Beschränkungen gab; wo sich dann für kurze Zeit ein einzigartiges kosmopolitisches Leben entfaltete (dessen Spuren übrigens auch in chinesischen Filmen aufleben und schon zum Mythos wurden). Ulrike Ottinger hat Menschen zum Sprechen gebracht und, wie man es von ihr nicht anders gewohnt ist, bei ihren Recherchen auch prägnante, vielsagende und überirdisch schöne Bilder gefunden.
Auf andere Weise beschäftigt sich der italienische Film MEMORIA von Ruggero Gabbai mit Geschichte. Er bringt italienische Juden vor die Kamera, die nach Auschwitz deportiert wurden und überlebt haben. Der Film wurde als Ergebnis einer großen Recherche an vielen verschiedenen Schauplätzen gedreht und wird gerade aufgrund seiner Einfachheit, aber auch seiner Sensibilität zu einem bewegenden Erlebnis - zum weiteren Kapitel einer Geschichte, die niemals zu Ende erzählt werden kann.
Der amerikanische Filmemacher Alan Berliner hadert in NOBODY'S BUSINESS mit seinem Vater darüber, ob und wann ihm dieser etwas von seiner Vergangenheit und Familiengeschichte erzählen kann. Der Vater ist spröde und verschließt sich oft den Fragen seines Sohnes. Daraus resultiert das Protokoll eines freundschaftlichen Zweikampfs, die Tonlage ist manchmal komisch, manchmal verzweifelt, am Ende kommt doch eine Menge von Geschichte und von Erfahrungen zum Vorschein.
Ein anderer Amerikaner, Daniel Eisenberg, der als DAAD-Stipendiat in Berlin lebte, orchestriert in PERSISTENCE auf sehr subtile Weise, gleich einem Bewußtseinsprotokoll, die Schichten der Vergangenheit im Stadtbild von Berlin, wobei er Beobachtungen verschiedenster Art mit Filmzitaten und Tagebüchern kombiniert. Dem Blick des Fremden fällt auf, was wir selbst, die wir in dieser Stadt leben, vielleicht nicht sehen. So wird dieser Film zu einem nachdenklichen Essai, einer Meditation, die die Durchdringung der Zeitebenen herstellt, wie nur ein Film es vermag.
Die Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte steht auch im Mittelpunkt des französischen Films REPRISE ("Wiederaufnahme") von Hervé Le Roux. Ausgangspunkt ist eines der faszinierendsten Filmdokumente des französischen Mai '68, der kurze Dokumentarfilm "La reprise du travail aux usines Wonder" - er beschreibt die spontane Straßendiskussion in einem pariser Vorort, als die Arbeiterinnen einer Fabrik für Batterien die Arbeit nach einem Streik wieder aufnehmen sollen. Eine Arbeiterin rebelliert, Gewerkschaftsvertreter versuchen sie zu beruhigen. Ein prototypischer, großartiger Film (wir entnahmen ihm unser diesjähriges Plakatmotiv), der bisher als anonym galt. Der Filmemacher und Kritiker Hervé Le Roux hat sich nun die Mühe gemacht, in REPRISE über das alte Dokument neu nachzudenken und alle Personen wieder ausfindig zu machen, die in dem alten Film "anonym" vor (und hinter) der Kamera stehen. Das wird zu einem faszinierenden Kapitel neuer Filmgeschichtsschreibung, basierend auf dramatischer Detektivarbeit, in deren Verlauf es viele Überraschungen gab, und zu einem Nachdenken über Glanz und Elend des Phänomens "Mai 68". Was ist aus den Menschen geworden, die die Protagonisten jener Tage waren ? Das Ergebnis ist aufschlußreich, tragisch, komisch und bewegend. Ein Film wie REPRISE repräsentiert vielleicht ein ganz neues Filmgenre, das aus der Beschäftigung mit Film- und Bildmaterial (also mit der Methode "Film im Film") einen Beitrag zur Geschichtsschreibung leistet.
Auch einige deutsche Dokumentarfilmregisseure bewegen sich auf ähnlichen Bahnen der Erinnerungs-Recherche. Winfried und Barbara Junge geben ihre zu DDR-Zeiten begonnenen "Lebensläufe" nicht auf und liefern uns jetzt das überaus lebendige Porträt einer Bürgerin des Dorfes Golzow in DA HABT IHR MEIN LEBEN - MARIELUISE, KIND VON GOLZOW. Im Hin und Her der Beobachtungen und Filmfragmente liefert der Film eine faszinierende, fein strukturierte Geschichtsschreibung. Volker Koepps Methode in WITTSTOCK, WITTSTOCK ist ganz anders als die der Junges, vielleicht mehr intuitiv und lakonisch, aber auch hier geht es um Querschnitte durch die Zeit, um die Identität von Menschen, um das Überleben und Weiterleben. Beide Filme sind so randvoll an Material, an Beobachtungen, die plötzlich zu Visionen werden, das sie jeden Fiktionsfilm mühelos in den Schatten stellen.
Bemerkenswert, daß die Auseinandersetzung um aktuelle Fragen der Gegenwart im deutschen Film fast nur im Dokumentarfilm stattfindet.
Es gibt jedoch auch ganz andere Querverbindungen oder Beziehungen zwischen Filmen des diesjährigen Forums-Programms. Da gibt es zum Beispiel den Themenkomplex Migration - zweifellos eine Erscheinung, die uns noch viel beschäftigen wird und vielleicht das zentrale Phänomen des zuendegehenden 20. Jahrhunderts ist. Johan van der Keuken, einer der großen niederländischen Filmemacher, ist der Spur dieses Phänomens nachgegangen und fixiert in AMSTERDAM, GLOBAL VILLAGE Schicksale von Menschen, die aus der Bahn gerissen und in ganz andere geographische Zonen verschlagen wurden. Und der Schweizer Peter von Gunten beschreibt in THEY TEACH US HOW TO BE HAPPY den ungeheuer mühevollen und langwierigen Weg von Menschen und Familien, die sich in der Schweiz um politisches Asyl bemühen und dabei die absurdesten Formalitäten durchlaufen müssen. Beide Filme orchestrieren ihr Thema in beeindruckender Form - van der Keuken kommt vom Realismus des Augenblicks zur großen Vision, während von Gunten ein Gefühl für das Ablaufen von Zeit und die existentielle Bedrohung entstehen läßt.
Einem anderen aktuellen Themenkreis, dem Balkan-Konflikt, lassen sich mehrere wichtige Forums-Beiträge zuordnen. Dazu gehören der deutsche Film NACH SAISON von Pepe Danquart und Mirjam Quinte, der über zwei Jahre die Tätigkeit von Hans Koschnick in der Stadt Mostar und das Leben der Menschen in einer zerstörten Stadt unter ständiger Kriegsgefahr protokollierte. CALLING THE GHOSTS von Mandy Jacobson und Karmen Jelincic aus USA/Kroatien ist die Chronik eines Konzentrationslagers und ein Exposé von Kriegsverbrechen, die insbesondere gegen Frauen begangen wurden, und BLACK KITES von Jo Andres (USA) beschreibt anhand von Tagebüchern das Dasein einer Künstlerin in den Kellern von Sarajevo.
Die Filme des Forums werden aber nicht nur nach ihrer Thematik, sondern auch nach ihrer Form, Eigenart und künstlerischen Verdichtung ausgesucht (wobei das Auswahlkomitee bei 703 Anmeldungen, die in diesem Jahr erreicht wurden, qualvollen Zerreißproben ausgesetzt war). Und da gibt es in verschiedenen Forumsfilmen ein besonderes Strukturelement, das ich als das Existentielle in der Filmsprache" beschreiben möchte. Während die meisten Spielfilme sich bemühen, eine erfundene Geschichte im Koordinatensystem von Handlung, Dramaturgie und Psychologie der Personen zu erzählen, gibt es eine Minorität von Filmen, denen es weniger auf eine Geschichte als auf die Darstellung eines Gefühls, eines Zustands, einer Befindlichkeit ankommt. Für diese Filme ist der Augenblick wichtig und seine Resonanzen, seine Assoziationen. In dieses Filmgenre gehört der neue Film FROST von Fred Kelemen, der die Wanderungen einer Mutter mit ihrem Sohn durch irreale, visionär gesehene Orten und Landschaften beschreibt, ein Film, der durch eine suggestive Erzählweise brilliert und alle überkommenen Vorstellungen von Kino über den Haufen wirft; oder des Amerikaners Todd Verow LITTLE SHOTS OF HAPPINESS, in welchem eine junge Frau aus der Monotonie des Alltags auszubrechen sucht und zu einer Drifterin" wird; oder der Film der Französin Yolande Zauberman CLUBBED TO DEATH, der das apokalyptische Lebensgefühl von Menschen aus dem Umkreis einer Diskothek beschwört und dabei faszinierende Bildvisionen entwickelt, gleichzeitig aber mit großer Diskretion vorgeht. Diese Filme operieren mit den poetischen Kräften des Bildes, mit der Stille, aber auch mit den Gestaltungsmitteln von Geräusch und Musik. Vielleicht tragen sie dazu bei, das Kino auf einen neuen Weg zu bringen - und den Zuschauer zu einer neuen Form von Erlebnis und Wahrnehmung. Vielleicht sind diese Filme die wahre Avantgarde des ausgehenden Jahrhunderts.
Einigen anderen Filmen des Forums-Programm wird man eher gerecht, wenn man sie nach ihrer geographischen Herkunft zusammenfaßt. Bemerkenswert in diesem Jahr die große Brasilien-Reihe, die vormittags um 11 Uhr im Delphi (mit Wiederholungen in anderen Kinos) gezeigt wird. Brasilien schien als Filmland zeitweise von der Landkarte verschwunden, bis vor kurzem eine Renaissance der Filmproduktion stattfand. Wir zeigen in unserem Brasilien-Panorama eine Auswahl von 8 Titeln, wobei die Spannweite von Genrefilmen mit klassischen" brasilianischen Merkmalen bis hin zu soziologischen und politischen Untersuchungen und zu durchaus experimentellen Arbeiten geht. Die meisten Regisseure auch dieser Filme (übrigens in der Mehrzahl Frauen) werden in Berlin anwesend sein.
Auch ein anderes lateinamerikanisches Filmland ist in diesem Jahr stärker vertreten: Argentinien. Es laufen zwei Arbeiten von Filmstudenten bzw. jungen Regisseuren, die beachtliches Format erreichen: MOEBIUS (inszeniert von Studenten der Film-Universität Buenos Aires) könnte man als eine surreale Studie bezeichnen, die jedoch sehr gegenwartsnah angesiedelt ist (es geht um die Suche nach einem im Labyrinth der Tunnel verschwundenen U-Bahn-Zug); und PICADO FINO von Esteban Safir ist die erfrischend dadaistische und überschäumende Talentprobe eines jungen Cineasten.
Die asiatischen Filmländer stehen auch in diesem Jahr wieder ganz vorn auf der Landkarte des Forums. Eine besondere Aufbruchsstimmung herrscht gegenwärtig im koreanischen Film. Aus Korea, wo kürzlich in Pusan das erste koreanische Filmfestival stattfand, haben wir drei Spielfilme eingeladen: DREI FREUNDE von Yim Soon-Rye (einer Regisseurin), die Geschichte dreier junger Männer, die zum Militär einberufen werden, DER TAG, AN DEM EIN SCHWEIN IN DEN BRUNNEN FIEL von Hong Sang-soo, eine sehr modern erzählte Dreieckgeschichte, im Mittelpunkt steht das Porträt eines erfolglosen Schriftstellers (der Titel des Films ist als Metapher für das Alltagsleben zu verstehen), und FESTIVAL, ein Film des bereits renommierten Regisseurs Im Kwon-Taek, der eine Begräbniszeremonie als Spiegel verschiedener Schicksale beschreibt und daraus ein bewegendes Familien- und Menschenporträt entwickelt.
Ebenfalls vielseitig und aktuell sind die japanischen Beiträge des Forums: [FOCUS] von Satoshi Isaka handelt von den ausbeuterischen Praktiken des japanischen Fernsehens und entwickelt sich vom cinéma-vérité zum Kriminaldrama; MEIN GEHEIMER GARTEN von Shinobu Yaguchi erzählt die phantastische und übermütige Geschichte eines resoluten Mädchens, das all ihre Energie daran setzt, einen Geldschatz aufzuspüren, den Bankräuber in einem magischen Wald versteckt haben; DER SCHLAFENDE MANN von Kohei Oguri ist eine Meditation über Leben und Tod, Schauplatz ist eine ländliche Kleinstadt, deren Alltagsleben liebevoll porträtiert wird. Oguri erweist sich zudem als Meister einer ganz außergewöhnlichen poetischen Bildgestaltung. Zum Überblick über gegenwärtige Tendenzen des japanischen Kinos gehört übrigens auch der phantastische und hochraffinierte Manga-Film MEMORIES (von Otomo und anderen), den das Forum in einer Mitternachtsvorstellung zeigt.
Der Hongkong-Regisseur Allen Fong, Wegbereiter des Autorenkinos seiner Region, drehte in Südchina einen Film über eine reisende Operntruppe: A LITTLE LIFE-OPERA hat absolut das Gepräge eines chinesischen Films, ist aber mit Darstellern aus Hongkong besetzt und fesselt durch seine prägnante, zugleich kontrollierte und sensible Regie; zugleich liefert er ein kritisches Bild vom gegenwärtigen Wandlungsprozeß der ländlichen Gesellschaft Chinas. Aus Hongkong zeigt das Forum zwei Mitternachtsfilme, YOUNG AND DANGEROUS III, einen Triaden-Film mit realistischem Hintergrund, und FORBIDDEN CITY COPS, ein komisches Kung-Fu-Drama. Beide Filme sind von hohem formalen Niveau und demonstrieren Temperament und Einfallsreichtum. Und aus Taiwan kommt mit A CHA CHA FOR THE FUGITIVE von Tsai-sheng Wang ein ultramoderner und raffinierter Film, der das Lebensgefühl der jungen Generation in Form einer expressionistischen Vision beschwört, die sich in rasanten Montagen und Bildfolgen artikuliert.
Als asiatische Neuentdeckung kann auch der thailändische Betrag FUN BAR KARAOKE von Tom Pannet gelten. Pannet legt in diesem Erstlingsfilm einen Essai in moderner Filmsprache vor, der anhand einer Vater-Tochter-Geschichte dem thailändischen Wirtschaftsboom der letzten Jahre einen kritischen Spiegel vorhält. Gleichzeitig besitzt der Film aber auch eine Dimension von Mythos und Märchen und arbeitet dadurch an einem neuen Modell für asiatisches Kino.
Schließlich gibt es in diesem Jahr auch zwei Spielfilme aus Indien im Forums-Programm: in KAHINI von Malay Bhattacharya unternimmt der Protagonist zusammen mit einem Taxifahrer und einem Maler eine Reise, die ihn nach vielen Abenteuern und exotischen Begegnungen in seine eigene Kindheit zurückführt; und TUNNU KI TINA von Paresh Kamdar beschreibt den Alltag eines jungen Mannes, der sich in seinen Träumen als Hollywood-Held erlebt. Der Film ist gleichzeitig eine Parodie auf indisches Mainstream-Kino.
Unter den US-Beiträgen muß man illtown von Nick Gomez herausheben, eine faszinierend und brillant inszenierte Gangstergeschichte, angesiedelt in Miami. illtown ist ein bis ins letzte Detail kontrollierter und stilisierter Film, der das Bild einer abgründig schönen und zugleich von Gewalt beherrschten Welt entwirft, die aus Phantasie und Träumen besteht, in der jedoch alle Auswege verstellt sind.
In einem ganz anderen Bereich des Kinos sind die Avantgarde-Filme des Forums angesiedelt. Zu diesen kann man auch Yvonne Rainers MURDER and Murder rechnen, obwohl hier eine durchaus amüsante Geschichte von zwei gegensätzlichen Frauen erzählt wird; Yvonne Rainer, als führende Vertreterin des feministischen Kinos bekannt, zieht hier alle Register ihres Könnens und ironisiert das Wertsystem der amerikanischen Gesellschaft. Zu den Vertretern der Avantgarde gehören auch Ernie Gehr, der mit FOR DANIEL sein neuestes Werk vorstellt, in welchem er, teils mit den Stilmitteln von `home movies', den Entwicklungsprozeß eines Kindes beschreibt, und Ken Jacobs, der in der Akademie der Künste Beispiele seiner "Nervous System Film Performances" vorführt. Ken Jacobs hat sich darauf spezialisiert, alte und uralte Filmstreifen, "gefundenes Material", einer neuen Bearbeitung zu unterwerfen : mit eigens konstruierten Apparaten zerlegt er die Filme in ihre Bestandteile, arbeitet mit Einzelbildern, Spiegelungen, Umkehrungen, Kontrasten aller Art, und läßt so ein Erlebnis entstehen, das über die traditionelle Filmwahrnehmung weit hinausgeht.
Als experimentelle Werke können auch zwei englische Beiträge des Forums gelten. GALLIVANT von Andrew Kötting läßt eine Großmutter mit ihrer Enkelin rund um England reisen, wobei die beiden außerordentliche Abenteuer erleben - dies ist ein zugleich sehr menschlicher, alltäglicher Film und ein Versuch in neuer Filmsprache. Yoram ten Brinck unternimmt in THE MAN WHO COULDN'T FEEL AND OTHER TALES eine Reise in die Geschichte des 20. Jahrhunderts "anhand meiner eigenen Film-Tagebücher".
Das Thema "Afrika" gehen zwei sehr eigenwillige Filme an. Der Franzose Raymond Depardon zeigt sich in AFRIQUES: COMMENT ÇA VA AVEC LA DOULEUR? als Chronist der schmerzlichen Seiten dieses Kontinents, gleichzeitig aber auch als großartiger Dokumentarist und filmischer Tagebuchschreiber. Jean Rouch legt mit seinem neuesten Film MOI FATIGUÉ DEBOUT, MOI COUCHÉ eine Sammlung von Erzählungen, Abenteuern und Legenden aus dem Niger vor, die diesmal um einen Baum kreisen, der zwar vom Blitz gefällt wurde, aber weiterhin lebt und sogar wundersame Fähigkeiten entfaltet.
Schließlich müssen einige Filme genannt werden, die aus verschiedenen Teilen Europas kommen: Michael Hanekes DAS SCHLOSS, eine Kafka-Bearbeitung großer formaler Meisterschaft; der schwedische Film ICH BIN DEIN KRIEGER von Stefan Jarl, eine Anklage gegen die Zerstörung der Umwelt, vorgetragen in Form einer Kindergeschichte (der 13jährige Viggo sieht sich als Indianer und Beschützer der Natur), Fridrik Thor Fridrikssons neue Island-Saga DIE TEUFELSINSEL, eine düstere, wilde Erzählung von verzweifeltem Humor, angesiedelt in einem Behelfslager der frühen Nachkriegszeit.
Beispiele für die Lebendigkeit des osteuropäischen Kinos liefern Gennady Polokas DIE RÜCKKEHR DES PANZERKREUZERS aus Rußland (ein skurriler, tragisch fehlgeleiteter Funktionär behindert die Dreharbeiten Eisensteins in Odessa), SPÄTER VOLLMOND von Eduard Sachariev aus Bulgarien (der Regisseur, ein großartiger Satiriker, verstarb leider während der Montage), DIE FREMDE ZEIT von Huseyn Mehtiev aus Aserbaidshan (ein hypnotischer Film über das Zusammenleben eines Mädchens mit ihrem gelähmten Vater und ein Protokoll des Wahnsinns). EIN GEWÖHNLICHER PRÄSIDENT von Juri Chaschewatzki aus Belorus ist ein grimmig-satirisches Porträt des belorussischen Staatspräsidenten von außerordentlichem Sarkamus und exzeptioneller filmischer Kraft.
Die Videoschiene des Forums im Arsenal (sie ist zugänglich für alle Festival-Akkreditierten!) ist übrigens mit vielen weiteren exzellenten Beiträgen renommierter Regisseure bestückt, unter denen der Film von Percy Adlon IN DER GLANZVOLLEN WELT DES HOTELS ADLON, die beiden israelischen Beiträge WIE ICH LERNTE, MEINE ANGST ZU ÜBERWINDEN UND ARIK SHARON ZU LIEBEN von Avi Mograbi und EMILE HABIBI- ICH BLIEB IN HAIFA von Dalia Karpel, schließlich auch das feministische Doppelprogramm GOOD SISTER / BAD SISTER von Liza Johnson (USA) und NAISENKAARI ("Gracious Curves") von Kiti Luostarinen eine besondere Erwähnung verdienen.
Ulrich Gregor
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